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Tristan Brusch - Am Wahn

Tristan Brusch- Am Wahn

Four / Tautorat / Sony
VÖ: 24.03.2023

Unsere Bewertung: 8/10

Eure Ø-Bewertung: 5/10

Alles ist vergiftet

2022 triumphierte die gute deutschsprachige Musik in unserem Jahrespoll: Die Nerven thronten an der Spitze, Tocotronic und Muff Potter fanden sich in den Top Five wieder. Noch im Vorjahr schummelte sich lediglich Danger Dan aufs Siegertreppchen, das kleine Meisterwerk "Am Rest"von Tristan Brusch fand sich abgeschlagen auf Platz 45 wieder. Jetzt erscheint mit "Am Wahn" der Nachfolger, und Brusch bewirbt sich damit eindringlich um einen Spitzenplatz in der diesjährigen Bestenliste.

"A woman saying yes to a date with a man is literally insane. And ill-advised." So formulierte der – mittlerweile gecancelte – Comedian Louis C.K. in einem seiner frühen Stand-Ups ein Naturgesetz: Die größte Bedrohung für die Frau ist der Mann. Laut Statistiken ist jedoch weniger das erste Date lebensbedrohlich, sondern der eigene Partner. Tristan Brusch fühlt sich rein in einen krankhaften toxischen Charakter und skizziert auf "Am Wahn", wie zwei Menschen sich lieben, zerreiben und an ihren falschen Vorstellungen zerbrechen. Er beweist einmal mehr einen präzisen Blick auf alles Menschliche, und es gelingt ihm, den unheilvollen Verlauf dieser Amour fou nachfühlbar zu machen. Zusammen mit Produzent Tim Tautorat kreiert der 34-Jährige eine bedrohliche Grundstimmung, die der Erzählung den passenden Rahmen liefert. "Wahnsinn mich zu lieben" beschreibt eine von Selbstzweifeln verunsicherte Frau, die sich sehenden Auges von jedem gesunden Menschenverstand verabschiedet: "Du denkst, Du musst ein Engel sein, eine Schulter zum Ausheulen / Und im Bett ne Hure sein, immer bereit und immer geil." Brusch bedient sich weiterhin dem Schockeffekt der drastischen Formulierung. Er setzt diese kleinen Nadeln auf seinem vierten Studioalbum aber noch präziser als zuvor. Umso länger hallt der Schmerz nach.

"Seifenblasen platzen nie", der Songtitel ein kleiner Gruß an Musikerfreund Maeckes, erzählt von dem Paar, das sich dank der weltweiten Pandemie und gemeinsamer Isolation noch intensiver miteinander auseinandersetzt. Die kleinen Risse in der Fassade werden deutlicher. Das schwelgerische "Mirage" entlarvt die Selbsttäuschung, "Wieder eine Nacht" die aufkeimende Depression beim männlichen Protagonisten. Die reduzierte und rohe Instrumentierung des Vorgängeralbums wird gegen eine teils opulente Inszenierung mit Geigen und Trompeten ausgetauscht. Dabei flirtet Brusch bei vollem Bewusstsein mit klassischem deutschem Liedgut, der eingängige Refrain des indie-poppigen "Baggersee" ist im positivsten Sinne schlageresk. Allein beim Duett "Kein Problem" mit Annett Louisan verschwimmt die Grenze zur Schnulzigkeit. Im Gesamtkontext ist der Song trotzdem ein stimmiges Puzzleteil.

Die Begräbnismusik am Anfang von "Glück" läutet das Ende der toxischen Beziehung ein, mit "Am Herz vorbei" folgt die gewalttätige Eskalation. Der Text ist eine fast wortgenaue Übersetzung des Songs "You missed my heart" von Mark Kozelek. Dadurch erhält das Lied eine weitere düstere Ebene, da Kozelek im Rahmen von #Metoo selbst mit schlimmen Vorwürfen konfrontiert wurde, die einen durch und durch toxischen Mann zeichneten.

Glaubenssätze, das Umfeld und die Sozialisierung prägen das Rollenverständnis eines heranwachsenden Mannes. "Für Theo" ist ein Appell an das selbstbestimmte Leben ohne Leistungsdruck und Unsicherheiten: "Willst Du dabei sein, sei dabei / Wenn Du frei sein willst, sei frei / Es gibt nichts zu vergeben, vor Dir liegt das Leben, es ist Deins." Brusch schildert nicht nur den krankhaften Verlauf, er liefert das Gegengift gleich mit. Der perfekte Abschluss eines aufwühlenden Albums, das lange in Erinnerung bleiben sollte.

(Andreas Rodach)

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Highlights

  • Wahnsinn mich zu lieben
  • Oh Lord
  • Monster
  • Am Herz vorbei
  • Für Theo

Tracklist

  1. Wahnsinn mich zu lieben
  2. Oh Lord
  3. Kein Problem (feat. Annett Louisan)
  4. Seifenblasen platzen nie
  5. Mirage
  6. Wieder eine Nacht
  7. Monster
  8. Baggersee
  9. Glücklich
  10. Am Herz vorbei
  11. Für Theo

Gesamtspielzeit: 37:47 min.

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User Beitrag

Unangemeldeter

Postings: 997

Registriert seit 15.06.2014

2023-03-27 10:13:29 Uhr
Ich hab's übers Wochenende jetzt auch zweimal durchgehört und bin Fan. Ich frag mich schon oft ob mir das zu nah am Kitsch gebaut ist, kann das aber auch nur für "Kein Problem" eindeutig bejahen, der geht nicht.
Ansonsten schon sehr dramatisch, theatralisch mit den effektvollen Streichern usw., aber einfach auch richtig gute Songs und Melodien.

Und: die Sprache stört mich überhaupt nicht, erstens grenzt das angenehm vom Schlager ab, zweitens passt das für mich auch sehr gut zu der Sichtweise des Charakters, aus dessen Sicht die Lieder ja alle gesungen werden. Außerdem kommt "Hure" doch genau einmal und "ficken" nur in dem einen Refrain vor - das ist jetzt ja keine Ficki-ficki-Lyrik, von "ständig" kann da doch keine Rede sein.

Z4

Postings: 3699

Registriert seit 28.10.2021

2023-03-25 19:07:23 Uhr
Nach dem ersten Durchlauf leider eher nicht mein Ding. Klingt die meiste Zeit so, als käme es aus einem Variete-Theater. Also sehr künstlich, bemüht theatralisch. Und er bräuchte mal einen Lektor für seine Texte, ständig Hure, Fick und so weiter zu hören erinnert sehr an die unangenehmen Momente bei Faber.

Z4

Postings: 3699

Registriert seit 28.10.2021

2023-03-25 18:42:40 Uhr
"Kein Problem" klingt sehr unangenehm nach Udo Lindenberg und Dagobert. Könnte er auch im Fernsehgarten spielen.

Earl Grey

Postings: 450

Registriert seit 14.06.2013

2023-03-23 21:59:54 Uhr
Yadda Yadda ihr zwei… so mache ich es auch. Schön.

Freue mich auf das Album. Habe tatsächlich noch nicht richtig reingehört. Noch nicht die Zeit gehabt.

Unangemeldeter

Postings: 997

Registriert seit 15.06.2014

2023-03-23 21:37:27 Uhr
Mehr ontopic: "Am Herz vorbei" hat mich eben auf einer längeren Zugfahrt dazu gebracht, endlich mal wieder die Perils of the Sea zu hören - mit ein bisschen Abstand einfach das Beste was der Kozelek gemacht hat. Ceiling Gazing, ey...
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