Anna B Savage - In flux
City Slang / Rough Trade
VÖ: 17.02.2023
Unsere Bewertung: 8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
Kleine Exorzismen
"We didn't need dialogue. We had faces!" So das Epitaph einer vergangenen Ausdruckskunst in den Worten von Stummfilm-Diva Norma Desmond in Billy Wilders "Sunset Boulevard". Auch Anna B Savage hat ein Gesicht – das wissen alle, die Live-Performances von ihr kennen und sahen, wie die britische Musikerin mit Grimassen und Tränen jedes besungene Gefühl visuell fassbar macht. Das mag auf manche übertrieben oder gekünstelt wirken, doch ist theaterhafter Expressionismus wirklich gleichbedeutend mit Schauspiel? Savage muss ihre zweite Platte "In flux" gar nicht selbst als ihr "Therapie-Album" bezeichnen, um zu verdeutlichen, wie Kunst und persönlichste Katharsis bei ihr verschmelzen. Ihre beeindruckende, manchmal in die Tiefen einer Haley Fohr vorstoßende Stimme vibriert vor all den widersprüchlichen Emotionen, die eine destruktive und doch nur schmerzvoll beendete Beziehung bei ihr auslösten und die sie in diesen 40 Minuten an die Oberfläche befördert. Produzent Mike Lindsay – als Kopf der Band Tunng und Laura Marlings Kreativpartner im Duo Lump ein Spezialist für elektro-akustische Arrangements – hilft ihr dabei, gleichzeitig reduzierte wie komplexe Transportmittel zu finden. Das Resultat sind zehn Songs, die ihr Publikum auch nach dem Verstummen noch lange begleiten.
Zunächst hat die Künstlerin noch mit einer eigenen Heimsuchung zu kämpfen. "The ghost" beginnt mit einem Spoken-Word-Segment übers gemeinsame Zähneputzen, bevor Akzente von Piano und Klarinette dem Stück immer mehr Kontur geben. "Stop haunting me", fleht Savage den seelisch noch immer präsenten Ex an, während Lindsays Drums vor Erschütterung zittern – eine ungeheure Wucht, welche die beiden hier aus häuslich-intimen Momentaufnahmen abschürfen. "Touch me" sehnt sich nach mehr Berührung als dem abendlichen Kopfstreicheln, bleibt trotz wabernder Synths aber im reservierteren Folk-Gewand. Ob "Hungry" mit seinen offenen Akustikakkorden die klaustrophobische Atmosphäre auflockert oder die plastisch gezupften Saiten von "I can hear the birds now" ebendiese verstärken: Die Platte ringt ihrem Minimalismus regelmäßig maximale Intensität ab. "Crown shyness" mag als von Lounge-Bläsern unterstützter Elektro-Pop das titelgebende Phänomen, bei dem sich die Kronen nebeneinanderstehender Bäume nicht berühren, als Metapher für das durch den Partner eingeschränkte Persönlichkeitswachstum nutzen. Doch musikalisch verdeutlicht "In flux", wie das Kleine seine ganz eigene Größe ausstrahlen kann.
Die Ausbruchsmomente gelingen nicht weniger grandios. "I'm waiting, I'm salivating", lechzt Savage im Indie-Rock von "Pavlov's dog", der tatsächliche Hechelgeräusche in seinen polyrhythmischen Beat einspeist – eine ähnlich faszinierende Klangkulisse wie in "Feet of clay" mit seinen fast schon R'n'B-nahen Harmonien und synthetischen Großstadtlichtern. Das besonders leise beginnende "Say my name" steigert sich gar in einen furiosen Free-Jazz-Strudel hinein, als würde Lindsay mit Saxofon im Mund einmal durch seine Instrumentensammlung fegen. Am Ende hört man Savage tief Luft holen, nach eigener Aussage sei sie direkt nach der Aufnahme in Tränen ausgebrochen. Die umgekehrte emotionale Entwicklung nimmt der Titeltrack: Körperloses Klagen zieht in die Industrial-Halle, ehe ein an LCD Soundsystem erinnerndes Synth-Riff die Discokugel anschmeißt. "I want to be alone / I'm happy on my own", deklariert Savage, bricht in befreites Lachen aus, albert mit ihrem Studiopartner herum und lässt die Stimme wie eine große Dancefloor-Diva purzeln. Die gelöste Stimmung setzt sich im Closer "The orange" ab, der mit simpel-wunderschöner Melodie sein Testament der Selbstliebe und Heilung formuliert: "If this is all that there is / I think I'm gonna be fine." Und das sonst zumeist von Leid gezeichnete Gesicht schmückt ein zufriedenes Lächeln.
Highlights
- The ghost
- Pavlov's dog
- In flux
- The orange
Tracklist
- The ghost
- I can hear the birds now
- Pavlov's dog
- Crown shyness
- Say my name
- In flux
- Hungry
- Feet of clay
- Touch me
- The orange
Gesamtspielzeit: 41:48 min.
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Enrico Palazzo Postings: 5117 Registriert seit 22.08.2019 |
2023-03-08 23:12:25 Uhr
Gibt schon nen Thread dazu :) |
Armin Plattentests.de-Chef Postings: 27676 Registriert seit 08.01.2012 |
2023-03-08 21:14:19 Uhr - Newsbeitrag
Frisch rezensiert. Meinungen? |
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Referenzen
Grace Cummings; Aldous Harding; Scott Walker; Circuit Des Yeux; Anohni; Lump; Laura Marling; Tunng; John Grant; Mirel Wagner; Beth Gibbons & Rustin Man; Joan As Police Woman; Arooj Aftab; Weyes Blood; Lucy Kruger & The Lost Boys; King Hannah; Miss Grit; Jesca Hoop; Jenny Hval; Nilüfer Yanya; Okay Kaya; Björk; PJ Harvey; Anna Calvi; Bill Callahan; Nick Drake; Jeff Buckley; Elliott Smith; Joni Mitchell; Beth Orton; This Is The Kit; Rozi Plain; Tomberlin; Kathryn Joseph; Newton Faulkner
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