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Caroline Polachek - Desire, I want to turn into you

Caroline Polachek- Desire, I want to turn into you

Perpetual Novice / Membran
VÖ: 14.02.2023

Unsere Bewertung: 8/10

Eure Ø-Bewertung: 6/10

The sensual world

"Watch your head, girl." Diese Warnung des verstorbenen Vaters erklingt in den ersten Minuten von Caroline Polacheks zweitem Album unter ihrem echten Namen, doch scheint die Tochter sie nicht wirklich zu Herzen zu nehmen. Der aktuellste Feuilleton-Liebling der Art-Pop-Szene hatte einen ungewöhnlichen Werdegang. Schon rund 15 Jahre ist die 37-Jährige im Geschäft, startete als Teil des Indie-Pop-Duos Chairlift und fand Ende der 2010er-Jahre nach einer Identitätssuche mit unterschiedlichen Monikern schließlich Erfolg bei Kritik und Fans, der ihr Zusammenarbeiten mit Charli XCX oder Dua Lipa sicherte. Und das gerade weil sie den Kopf nie unten hielt, theaterhafte visuelle Konzepte mit mythologischen Referenzen und Genre-Verschmelzungen verknüpfte, ohne je in völlige Avantgarde-Gefilde einzubrechen – wenn sie ohne Not Vergleiche mit Kate Bush ablehnt, zeigt das ja nur, in welcher Erblinie sie sich selbst sieht. "Desire, I want to turn into you" will sich nun nicht nur in purste Sehnsucht verwandeln, es schraubt die maximalistischen Tendenzen auch sonst in keinerlei Form zurück. Doch Polachek ist als Songwriterin, Soundarchitektin und klassisch ausgebildete Sängerin so versiert, dass ihr neues Werk dem Anspruch, eines der besten Pop-Alben des Jahres zu sein, tatsächlich gerecht wird.

"Welcome to my island / Hope you like me / You ain't leaving", spricht der Opener als Drohung aus. Mit seinem Mix aus orgasmischem Opern-Intro, Glitzer-Synths, Cheerleader-Rufen, käsigem Rap und noch käsigerem Gitarren-Gepose scheint er einen gewissen Typus sich selbst zu ernst nehmender Musikhörer*innen abschrecken zu wollen, trifft mit seiner Killer-Hook als campy Euphorie-Pop aber voll ins Schwarze. So offensiv testet sonst nur der Stadion-Vulkan "Smoke" die Spannweite seiner Arme aus. Der Rest der Platte hat Anderes im Sinn, wie der sonnig-klappernde TripHop von "Pretty in possible" gleich an zweiter Stelle klarmacht, indem er streicherbegleitet von der Odyssee erzählt und ohne Refrain wie ein hypnotischer Lavastrom fließt. Die Mittelmeerküste von Griechenland bis Spanien bildet den atmosphärischen Fluchtpunkt, dessen Abgründe als Teil der idyllischen Landschaft in diese eingeschrieben sind. Die Flamenco-Gitarren des wundervollen "Sunset" transportieren den Track vom mediterranen Liebeslied zur polyrhythmischen Gesangsakrobatik ohne sichtbare Bruchstelle.

"Desire, I want to turn into you" ist ein Album, das man schmecken, riechen und fühlen kann, das der konstanten Sinnesüberwältigung seiner Zeit eine klar konturierte Kathedrale baut und unheimlich plastisch texturiert ist. "Bunny is a rider" verwischt die Spuren seines skelettalen R'n'B-Beats mit Baby-Lauten, Gepfeife und funkigem Bass – "Satellite can't find her", in der Tat. "Fly to you" errichtet sein entspannt-treibendes Fundament auf Drum'n'Bass-Gezappel und Akustikzupfern, vereint dabei Grimes und, of all people, Dido als Features, als wären sie nicht zwei komplett gegensätzliche Ikonen von Post-Genre-Futurismus respektive braver Nuller-Pop-Nostalgie. Letztere ist auch das passende Stichwort für "I believe", das mit UK-Garage-Gerüst und großen Piano-House-Akkorden einem anderen Zeitgeist entspringt. Selbst eine schockgefrostete Ambient-Ballade wie "Hopedrunk everasking" sorgt mit rhythmisch eingewobenem Feuermelder-Piepen dafür, dass niemand auf ihr ausrutscht.

Polacheks Songs halten in diesem Sinne die perfekte Balance zwischen Zugänglichkeit und Mystik – der psychedelische Space-Folk von "Butterfly net" findet dafür selbst eine passende Metapher, wenn er Licht per Kescher einzufangen versucht. Das wie aus einer Tropfsteinhöhle ertönende "Crude drawing of an angel", gibt sich selbst Regieanweisungen, während es an der Verewigung flüchtiger Liebe scheitert. In "Blood and butter" will die New Yorkerin ihrem Objekt der Begierde unter die Haut, "closer than your new tattoo", um genau zu sein, bevor ein Dudelsack-Solo (ja) das Stück aus dem Reich der Worte hebt. Faszinierender ist nur der Closer "Billions", der von Sonetten, Seemännern und kopflosen Engeln singt, ein Füllhorn der Klänge über indische Tabla-Trommeln stülpt und einen Kinderchor sein Schlussmantra intonieren lässt: "I've never felt so close to you." Gemeint ist womöglich das ewige Du der Popmusik, das Begehren des Albumtitels, der Vater im Jenseits, der Olymp der Popkultur, und wahrscheinlich alles gleichzeitig. Wenn sich Caroline Polachek den Kopf zu stoßen droht, zieht sie einfach die Decke höher.

(Marvin Tyczkowski)

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Highlights

  • Welcome to my island
  • Sunset
  • Blood and butter
  • Billions

Tracklist

  1. Welcome to my island
  2. Pretty in possible
  3. Bunny is a rider
  4. Sunset
  5. Crude drawing of an angel
  6. I believe
  7. Fly to you (feat. Grimes & Dido)
  8. Blood and butter
  9. Hopedrunk everasking
  10. Butterfly net
  11. Smoke
  12. Billions

Gesamtspielzeit: 45:24 min.

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(Neueste fünf Beiträge)
User Beitrag

jo

Postings: 4419

Registriert seit 13.06.2013

2023-03-13 15:22:41 Uhr
Würde aber erklären, warum mir das Album nicht zusagt. Honig mochte ich nämlich auch noch nie...

Z4

Postings: 3616

Registriert seit 28.10.2021

2023-03-13 15:14:04 Uhr
Audiohonig gehört in diesen Thread für Todesstrafe in Musikrezensionen, aber sonst volle Zustimmung ^^

Vennart

Postings: 825

Registriert seit 24.03.2014

2023-03-13 15:11:36 Uhr
Ich hatte sie tölpelhafterweise als einen von diesen nervigen pitchfork-Hypes abgestempelt gehabt, ohne dass ich je was von ihr gehört habe und das war ziemlich doof von mir.
Seit drei Wochen höre ich das Album im Dauerloop und entdecke nun auch Carolines Debut und ihre Sachen mit Chairlift, die auch empfehlenswert sind.
Für mich sind da fast nur Hits drauf, kann nicht verstehen wie man finden kann, diese Songs würden nichts taugen, Popsongs in Vollendung sind das.
Dazu eine fantastische Produktion und ihre Stimme ist einfach Audiohonig.

vinylium_senfterum

Postings: 8

Registriert seit 08.03.2023

2023-03-09 07:29:26 Uhr
Ich liebe dieses Album sehr. Caroline hat das starke Debüt noch mal bestätigen können. Find ihr Falsett sehr beeindruckend.

Socko

Postings: 241

Registriert seit 06.02.2022

2023-03-05 06:37:38 Uhr
Unglaublich langweilig und austauschbar. Fantastisch produziert, das kann aber heute jeder. Die Songs taugen einfach nix.
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