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Chefdenker - Asozialdarwinismus

Chefdenker- Asozialdarwinismus

Trillerfisch / Cargo
VÖ: 13.01.2023

Unsere Bewertung: 7/10

Eure Ø-Bewertung: 5/10

Von Kopf bis Fuß auf Deutschpunk eingestellt

Jede Stadt hat die Punkband, die sie verdient, ließen Die Shitlers mal verlautbaren. Eine überzeugende Hypothese. Doch obwohl manche Zusammenhänge glasklar zu erkennen sind – ganz so einfach gestaltet es sich in der Wirklichkeit dann doch nicht immer. Gegen die große Stadt am Rhein kann ein vernunftbegabter und einigermaßen geschmackssicherer Mensch zum Beispiel manches einwenden. Karneval etwa. Oder diese wässrige Plörre, die man dort Bier nennt. Und nicht zuletzt BAP. Vor allem BAP. Doch in Sachen Deutschpunk hat Köln mit Claus Lüer alias Johnny Colognesome einen 1a-Mann am Start. Der Sänger, Gitarrist und, nun ja, Chefdenker der Bands Knochenfabrik, Casanovas Schwule Seite und Chefdenker ist seit Jahren eine feste Größe in der Szene und hat Alben und Songs für die Ewigkeit geschaffen. Ein von einigen immer noch verkannter Poet, mutmaßlich ausgesprochen trinkfest und erwiesenermaßen mit einem Händchen für abseitigen Humor gesegnet, was das jüngste Werk mit dem Titel "Asozialdarwinismus" eindrucksvoll belegt. Wenn das schmierige Intro also "Wir sind zurück" konstatiert, ist das ein guter Grund zum Anstoßen. Am besten mit Bier, denn wie gibt der gleichnamige Song zu Protokoll: "Man trinkt es zum Deutschpunk / Es ist ein Lebenselixier / Quasi ein Zaubertrank." Prosit!

Das letzte Chefdenker-Album hat mittlerweile stolze sieben Jahre auf dem Buckel, geändert hat sich seit "Eigenuran" und seinen diversen Vorläufern aber nicht allzu viel. Wer auf "Hitlers Autobahn" im Stau stand und dem "Punkrockkavalier" nacheiferte, wird sich auch auf "Asozialdarwinismus" sofort heimisch fühlen. Musikalisch sind Chefdenker weiterhin eher breitbeiniger Rock'n'Roll als räudiger Punk à la frühe Knochenfabrik. Wohlgemerkt drehen sich die Texte aber nicht mehr ausschließlich um den Konsum von Dosenbier, was den geneigten Hörer*innen auf dem Vorgänger ja noch denkwürdige Perlen wie den vierteiligen "24-Stunden-Sauf-Workout", "Ich saufe mehr als der Arzt erlaubt" und "Mythos Leberzirrhose" bescherte. Thematisch ist "Asozialdarwinismus" merklich breiter aufgestellt – und geht deep. "Wird es sich als schlau erweisen / Wenn Nachkriegskinder Adolf heißen?" Darf man ja mal fragen. Auch "Kann Rock'n'Roll Elektromobilität?" möchte offensichtlich ein bedeutsames Anliegen der Klärung zuführen. Aber wirklich: Eine Alltagsminiatur wie "Kreuzberger Morgen sind lang" ist einfach nur großartig-grotesk zugespitzt. Und man weiß nicht genau: Macht sich Lüer über eine kosmopolitisch-hipsterige Servicewüste lustig oder doch eher über das wohlfeile Berlin-Bashing?

Der ironisch gebrochene Machismo, den Chefdenker in "Indierock & AC/DC" ausstellen, verneigt sich ebenso vor Turbonegro wie die Licks von Gitarrenvirtuose The Kollege, die nicht nur hier den Refrain veredeln. Wer hat nach Brian Johnson und Bon Scott eigentlich die drittdicksten Eier? Auch wieder so eine Frage, die keine andere Band zu stellen wagt. Und da wir schon beim Thema fragile Männlichkeit sind: "Der beste Papa der Welt" findet hinter dem feuchtfröhlichen Kirmesbesuch eine deprimierende Tristesse. Der nächste Filmriss lässt grüßen. Nachdenklich stimmt auch "Ich höre den ganzen Tag Jeff Lynne", das zu gediegenen Country-Rock-Klängen die Geschichte vom Ende her erzählt. Und "Ich fand Star Wars schon scheiße als es Star Wars noch gar nicht gab" geht ebenfalls existenziellen Fragestellungen auf den Grund. "Ich war schon da, als es mich noch gar nicht gab / Ich stand mit Dosenbier an meinem eigenen Grab." Das sind Überlegungen, die Mensch erst einmal durchdenken muss. Eher unbeschwerte Albernheiten und bewährten Klamauk bieten dagegen Songs wie "Russischer Anwalt", "Blues auf A (Part 2)" und "Im weißen Rössl", wobei letzterem das unschätzbare Verdienst zukommt, die Wendung "holla di hopsassa" auf einer Deutschpunkplatte untergebracht zu haben.

Sind Akademiker*innen anwesend? "Wat guckst Du blöd, Du Brillenschlange? Schau mal meine Eisenstange / Bist Du intellektuell, dann gibt's direkt wat aufs Gestell." Man muss aber auch gönnen können: "Junge Union" klingt wie die Schwulstballade einer berüchtigten Deutschrockband aus Frankfurt am Main, watet knietief durch pathetischen Nonsens und gipfelt in der schönen, weil wahrhaftigen Zeile "Scheiße labern bis zur Perfektion / Lebenslänglich Junge Union". Eine verheißungsvolle Auswanderer-Utopie in Post-Corona-Zeiten entwirft dagegen "Ballett kann jeder": "Und jetzt alle in Versalien / AUSTRALIEN! AUSTRALIEN! AUS-TRA-LI-EN!". Dass die Kölner zwischen den vielen tiefgründigen Lebensweisheiten dann doch auch ausgiebig dem Dosenbier huldigen, soll schließlich nicht unerwähnt bleiben. Im eigentlichen Opener "Blues auf A (Part 1)" fällt das schöne Wort "Gossenschluckspechtpoesie", das auch gut als Albumtitel getaugt hätte. 2023 präsentieren Chefdenker jedenfalls lyrische Köstlichkeiten vom Allerfeinsten, ansprechend verpackt. Scheint so, als hätte Claus Lüer mal wieder alles richtig gemacht. Aber so ist man es bei dieser Vita ja gewohnt. Oder wie es in "Lückenloser Lebenslauf" heißt: "Ich reiß' ein Dosenbier auf / Auf meinen Lebenslauf / Hoch das Aluminium/ In Bier ist kein Magnesium."

(Markus Huber)

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Highlights

  • Kann Rock'n'Roll Elektromobilität?
  • Kreuzberger Morgen sind lang
  • Junge Union
  • Russischer Anwalt
  • Der beste Papa der Welt

Tracklist

  1. Wir sind zurück
  2. Blues auf A (Part 1)
  3. Kann Rock'n'Roll Elektromobilität?
  4. Kreuzberger Morgen sind lang
  5. Brainstorming in der Werbeabteilung
  6. Der Kommissar
  7. Bier
  8. Indierock & AC/DC
  9. Der Mann im Anzug
  10. Junge Union
  11. Russischer Anwalt
  12. Karneval in Köln
  13. Im weißen Rössl
  14. Ich höre den ganzen Tag Jeff Lynne
  15. Der beste Papa der Welt
  16. Lückenloser Lebenslauf
  17. Ballett kann jeder
  18. Ich fand Star Wars schon scheiße als es Star Wars noch gar nicht gab
  19. 
Blues auf A (Part 2)

Gesamtspielzeit: 35:01 min.

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(Neueste fünf Beiträge)
User Beitrag

Rochen

Postings: 570

Registriert seit 15.10.2022

2023-04-09 15:18:56 Uhr
Es sagt einiges über die Punk-Expertise dieses Forums aus, dass eine Band wie "Team Scheiße" hier abgefeiert wird, während es gerade mal 6 Kommentare zur gesamten Bandgeschichte von Chefdenker gibt. Das neue Album ist auf gewohnt hohem textlichen und musikalischen Level, auch wenn ich den Vorgänger "Eigenuran" besser fand. Persönlicher Favorit: "Kreuzberger Morgen sind lang"

Christopher

Plattentests.de-Mitarbeiter

Postings: 3807

Registriert seit 12.12.2013

2023-02-21 22:04:34 Uhr
Verbinde die Band mit der Jugend im heimischen Zeckenladen. Da liefen die doch recht oft.

Hierkannmanparken

Postings: 2107

Registriert seit 22.10.2021

2023-02-21 14:40:16 Uhr
Sehr unterhaltsam! Mit Kreuzberger Morgen gibt es das für Deutschpunkalben obligatorische Hipsterbashing.
Der Mann im Anzug ist aber auch richtig lustig, wie da das Anzuträgerdasein heruntergebrochen wird.
Im Jeff Lynne-Song hab ich gleich den Beat von Don't bring me down erkannt.
Der beste Papa der Welt ist aber glaube nein absolutes Highlight.. :D

Armin

Plattentests.de-Chef

Postings: 28473

Registriert seit 08.01.2012

2023-02-15 21:38:44 Uhr - Newsbeitrag
Frisch rezensiert.

Meinungen?

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