Christin Nichols - I'm fine

Freudenhaus / Rough Trade
VÖ: 21.01.2022
Unsere Bewertung: 7/10
Eure Ø-Bewertung: 6/10

Mach was draus
Christin Nichols muss sich ständig mit Dick Pics herumschlagen. Selbstverständlich nur in ihren Schauspielrollen, hoffentlich. Etwa als beste Freundin einer Gay-WG in der Miniserie "All you need". Oder als Angehörige des Planetenrats in einem umwerfend komischen Sketch zum Thema Migration zusammen mit Maren Kroymann und Joe Bausch. Und im Spielfilm "Fucking Berlin" blieb es nicht einmal bei den Pics. Kennen könnte man die Deutsch-Britin außerdem von Prada Meinhoff, dem Post-Electroclash-Duo mit dem prägnanten Bass und der Coverversion von Grauzones "Eisbär". Nach dessen Auflösung denkt Nichols jedoch gar nicht daran, die Musik an den Nagel zu hängen. Stattdessen hat sie sich für ihr Solodebüt Kollegen von Isolation Berlin oder Shybits geschnappt und pflegt nunmehr kühlen New-Wave-Chic und leckt sich die Indie-Rock-Wunden.
Alles vom Feinsten also, wie der Albumtitel andeutet? Geht so. Mitunter ist Nichols nämlich mehr als angepisst. Vor allem in der Single "Today I choose violence", die nur die unverschämtesten und übergriffigsten Auswüchse toxisch-maskulinen Benehmens aneinanderreiht. Wiedergegeben gehören diese hier wirklich nicht noch einmal – nur so viel: Wenn Du ein Mann bist, einfach mal die Fresse halten. Und lieber zu diesem zackigen Monster-Hit tanzen, auch wenn man inhaltlich nicht weiß, ob man nun lachen oder weinen soll. "I'm fine" heißt hier nicht "Danke, bestens", sondern "Laber mich nicht dumm von der Seite an und kümmer Dich um Deinen Kram." Hätten wir das auch geklärt. Trotzdem ist diese geistreiche Platte keineswegs auf Krawall gebürstet und vielmehr ein musikalisch versiertes, manchmal kleinlautes Ausloten der eigenen Grenzen und Schwächen.
Der prägnante Bass fehlt auch auf "I'm fine" nicht – Gleiches gilt für schlaue Pop-Zitate wie ein von Shania Twain gemopstes "That don't impress me much". Und im hinreißend unscharfen Rocker "Fame" taucht erneut der pelzige Polarbewohner auf, während Nichols am Starrummel zweifelt und "Insta" auf "finster" reimt. Wer möchte, darf im pluckernden Achtziger-Beat von "Take a risk" sogar Ultravox' "Dancing with tears in my eyes" hören oder bei "Sieben Euro vier" an "Denkmal" von Wir Sind Helden, äh, denken. Jedenfalls verströmt dieses Stück ähnliche Selbstironie und matte Grandezza, ehe es in der Zeile "Ich möchte, dass es Euch schlecht geht / So schlecht wie mir" gipfelt. Das beste "Citalopram" ist nun mal die Gewissheit, dass andere auch nicht besser dran sind als man selbst. Fair enough – und mit einem kajalumrandeten Augenzwinkern gequengelt.
Das sehnsüchtige "Malibu" hingegen träumt sich in Kindheitstage zurück – doch wenig später blickt Nichols wieder nach vorne, lässt die Gitarren aufbegehren und spricht sich selbst Mut zu: "Take a risk, geh rein da / Und das Ganze bitte zeitnah." Mach was draus, und mach Dir nichts draus. Selbstermächtigung in Tüten und in dynamischem Shoegaze-Gewand, das in den zwischen Deutsch und Englisch changierenden Texten auch die zweisprachige Sozialisation der Sängerin berücksichtigt. Und nachdem Anika "I see you" mit Deadpan-Vocals veredelt hat, ist Nichols im Closer so gut wie zu Hause und macht mit Bier in der Hand, rauem Dream-Pop und feinen elektronischen Details der ostwestfälischen Heimat ihre gekippte Aufwartung: "Auch wenn die Sonne scheint, regnet's in Bielefeld." Aber keine Sorge: Für solche Tage gibt es Alben wie "I'm fine".
Highlights
- Today I choose violence
- Sieben Euro vier
- Fame
- Bielefeld
Tracklist
- I'm fine
- Today I choose violence
- Malibu
- Sieben Euro vier
- Fame
- Neon
- Take a risk
- Phoenix
- I see you (feat. Anika)
- Kein Grund zu schreien
- Koma
- Bielefeld
Gesamtspielzeit: 43:51 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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Sick Postings: 313 Registriert seit 14.06.2013 |
2023-01-06 17:45:46 Uhr
Ich habs ja gesagt. Hab ich oft gehört letztes Jahr. |
Armin Plattentests.de-Chef Postings: 28276 Registriert seit 08.01.2012 |
2023-01-03 20:37:08 Uhr - Newsbeitrag
Frisch rezensiert. "Vergessene Perle 2022"! Meinungen? |
n00k Postings: 278 Registriert seit 26.01.2021 |
2023-01-03 20:27:35 Uhr
Verdientermaßen doch noch eine Rezi bekommen. Würde sogar eine 8 geben. |
n00k Postings: 278 Registriert seit 26.01.2021 |
2022-02-14 22:36:53 Uhr
Gerade Ja, Panik würfelt doch alles zusammen, was geht :D |
Z4 Postings: 8861 Registriert seit 28.10.2021 |
2022-02-05 19:28:14 Uhr
Ich finds immer ziemlich abturnend wenn die Sprache nicht einheitlich ist. Entweder englisch oder deutsch oder bunt gemischt wie bei Ja, Panik ist mir deutlich lieber, sonst wirkt es so zusammengewürfelt. |
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Referenzen
Prada Meinhoff; Shybits; Die Supererbin; Laura Lee & The Jettes; Gurr; Culk; Sophia Blenda; Ilgen-Nur; Mira Mann; Blond; Erregung Öffentlicher Erregung; Sorry3000; Spillsbury; Tubbe; Schnipo Schranke; Ducks On Drugs; Fritzi Ernst; Die Heiterkeit; Stella Sommer; Wir Sind Helden; Judith Holofernes; August August; Locas In Love; Karpatenhund; Stefanie Schrank; Willman; Children; Minimal Schlager; Britta; Christiane Rösinger; Chuckamuck; Kala Brisella; The Raveonettes; Siouxsie And The Banshees; X Mal Deutschland; Fred Banana Combo; Ideal; Neonbabies; Östro 430; Insisters; Acht Eimer Hühnerherzen; Liebe Frau Gesangsverein; Grossstadtgeflüster; Desiree Klaeukens; Theodor Shitstorm; Antje Schomaker; Sophie Hunger; Anika; Laura Carbone; Lucy Kruger & The Lost Boys; Nichtseattle; Shitney Beers; Buzzy Lee; Gong Wah; The Screenshots; Oum Shatt; Snøffeltøffs; Isolation Berlin; BOY; Tegan And Sara; Alice Merton; Beth Ditto; Henri Jakobs; Grauzone
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