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Jockstrap - I love you Jennifer B

Jockstrap- I love you Jennifer B

Rough Trade / Beggars / Indigo
VÖ: 09.09.2022

Unsere Bewertung: 8/10

Eure Ø-Bewertung: 8/10

Kostüme auf der Haut

Dass sich hier etwas Besonderes ankündigt, wurde schon mit den ersten Singles deutlich. Da wäre "50/50", das mit der isolierten Aufzählung diverser Vokale beginnt, der Dekonstruktion von Sprache dann diejenige elektronischer Tanzmusik folgen lässt. Irgendwo zwischen Breakbeat, wummerndem Techno und verspielten Glitches wehen Georgia Ellerys Stimmfetzen durch den Club und flüstern bei aller klanglichen Knüppelei doch eine poppige Sensibilität unter den Bass. Und obwohl "50/50" einen stilistischen Ausreißer auf "I love you Jennifer B" markiert, zeigt sich genau darin ein wesentliches Element der Klasse dieses Albums: die Fähigkeit, ohne Scheu unterschiedliche Welten aufeinander zu jagen, mit flinken Fingern durchs Lexikon der Musikgeschichte zu blättern und dabei so vieles zu registrieren. "Concrete over water" kam vielleicht noch verblüffender daher. Ellery schwelgt darin zu zunächst behutsamen Keyboard-Klängen in sentimentalen Sehnsüchten, Urlaubsbildern und existenziellen Fragen, berückt mit ihrem Falsett. Bald stiften stakkatohafte Hintergrundchöre und flirrende Synthies einige Unruhe und die Stimmung schillert zwischen barockem Pop und Nachtleben-Montage. "Tower's blue and the city black", so erscheint der rätselhafte Handlungsort, dem Ellery bald Rechnung trägt: "I want more than my head." Ellery und Taylor Skye, die sich 2016 während des Studiums zum Duo Jockstrap vereinten, legen nach diversen Singles und EPs nun also ein Debütalbum vor, dessen Vorboten bereits viele genresprengende Potenziale aufzeigten. Wie sie diese dann in ein songdienliches Format integrieren, macht "I love you Jennifer B" zu einem erstaunlichen Erstling.

Wer sich fragt, warum es bis zur Veröffentlichung so lange gedauert hat, findet einen Grund womöglich in Ellerys anderen Projekten. Als Violinistin von Black Country, New Road kann sie sich auf die Fahnen schreiben, gleich zweien der eindringlichsten jungen Bands Englands anzugehören. Musikalisch haben beide auf den ersten Blick gar nicht allzu viel miteinander zu tun. Leichtfüßiger, poppiger, elektronischer wirken die meisten Songs von Jockstrap, ohne dafür ihre emotionale Komplexität zu opfern. "Neon" beginnt mit akustischen Gitarrenakkorden, driftet dann zu kalten Beats in digital anmutende Unterwasserwelten, um am Ende in einer hymnischen Indie-Rock-Coda tatsächlich an Built To Spill zu erinnern. Die Lust am Zersetzen und Rekombinieren prägt auch die Dynamik der weiteren Tracks, doch drückt sich in ihnen zugleich durchgehend die Lust an der gelungenen Melodie, am eingängigen Song aus. Angefangen mit dem schrägen Elektro-Pop des Quasi-Titeltracks, dessen erodierte Beats mit brüchig gewordenen Identitäten flirten und der thematisch zwischen schlüpfriger Selbstentblößung ("I can be a stripper if you want me to") und unschuldigem Spaß ("Get a Switch and I'll connect with ya") pendelt, hüpfen Skye und Ellery durch diverse musikalische Welten, probieren Stile an wie Gewänder, ohne sich je einengen zu lassen. "What's it all about?" entpuppt sich als klassische Ballade mit eleganter Geste und Streicherteppichen, die abschließend soundmanipulativ zur Lo-Fi-Demo ihrer selbst wird; "Lancaster Court" ertastet vorsichtig düstere Folk-Abgründe; "Debra" wird zur durchgeknallten Nachtfahrt mit Bollywood-Elementen, Animal-Crossing-Verweisen und der vielleicht schärfsten Textzeile des Albums: "Grief is just love with nowhere to go."

Eine ideelle Gemeinsamkeit zwischen Ellerys Bands liegt dann doch im virtuosen Umgang mit popkulturellen Referenzen: Nicht umsonst betonen sie und Skye in Interviews stilsicher den Eklektizismus ihrer Einflüsse, begreifen Originalität vor allem und zu Recht als gekonnte Assemblage. "Angst" zwinkert auch in diesem Sinne Weyes Blood zu, zitiert mehrfach subtil aus "Titanic rising" und spult sich dann hastig weg. Während Ellery auch textlich der Spielfreude frönt und immer wieder die Register wechselt, sind es im Laufe dieses famosen Debüts einmal mehr zwei ganz unterschiedliche Songs, die alles aufs Tableau bringen. "Glasgow" leitet seine Liebeserklärung an die schottische Metropole mit Harfenklängen ein, wird weitgehend von akustischen Instrumenten getragen und verführt mit wunderschönen Harmoniefolgen im Refrain. Und in "Greatest hits" mutiert Ellery mal eben zur 80er-Jahre-Popikone, deren Stimme sich zu aufklarenden Klavierakkorden in einem grandiosen Refrain entlädt. Wenig befindet sich außerhalb der Reichweite der beiden, wenn ihre Songs beinahe beiläufig das fragmentierte Subjekt und seine verschütteten Begehren offenlegen. Im Gegenteil: Jockstrap lieben das Experiment, machen aber keine Musik für nischenhafte Kunstinstallationen. Sondern faszinierenden Pop – lustvoll, sinnlich, gegen den Strich gebürstet.

(Viktor Fritzenkötter)

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Highlights

  • Jennifer B
  • Greatest hits
  • Concrete over water
  • Glasgow

Tracklist

  1. Neon
  2. Jennifer B
  3. Greatest hits
  4. What's it all about
  5. Concrete over water
  6. Angst
  7. Debra
  8. Glasgow
  9. Lancaster Court
  10. 50/50

Gesamtspielzeit: 44:11 min.

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(Neueste fünf Beiträge)
User Beitrag

zombye

Postings: 50

Registriert seit 18.07.2022

2023-01-14 21:33:30 Uhr
@zickzack: +1

zickzack

Postings: 1

Registriert seit 03.01.2023

2023-01-03 20:42:56 Uhr
Meine Platte des Jahres, nichts lief öfter.

Armin

Plattentests.de-Chef

Postings: 26286

Registriert seit 08.01.2012

2023-01-03 20:36:53 Uhr - Newsbeitrag
Frisch rezensiert.

"Vergessene Perle 2022"!

Meinungen?

Grizzly Adams

Postings: 4585

Registriert seit 22.08.2019

2022-12-02 17:50:42 Uhr
Bei der Hälfte der Songs höre ich nichts, was sie besonders catchy oder wertvoller macht als viele andere Indie-Popnummern und bei der anderen Hälfte fällt mir keine Gelegenheit oder Stimmung ein, bei der ich sie überhaupt hören möchte. Nix für mich.

Kai

User und News-Scout

Postings: 2767

Registriert seit 25.02.2014

2022-12-02 16:00:46 Uhr
Statt dessen haben wir halt Höhner und die Kellys.
Auch nicht schlecht.
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