Ibibio Sound Machine - Electricity
Merge / Cargo
VÖ: 25.03.2022
Unsere Bewertung: 8/10
Eure Ø-Bewertung: 9/10
One world stand
Ibibio ist eine Sprache des südöstlichen Nigerias, die seit den Siebzigerjahren als Minderheitensprache anerkannt und dementsprechend gefördert wird. Löblich, dass die britisch-nigerianische Sängerin Eno Williams ihren überregionalen Beitrag dazu leistet, doch pointiert ihr ständiger Wechsel zwischen Englisch und Ibibio darüber hinaus auch das Ethos ihrer Band Ibibio Sound Machine. Kontinente und Dekaden umspannt das Londoner Kollektiv, indem es klassischen Afrobeat mit allerlei anderen in den letzten 50 Jahren außerhalb Westafrikas entstandenen Genres verbindet, solange diese einen gemeinsamen Kern teilen: den Bewegungsdrang, den unignorierbaren Rhythmus, der Menschen überall auf der Welt zum Tanzen bringt. Logisch, dass im Zuge gemeinsamer Festivalauftritte ein Verhältnis geteilter Bewunderung mit den gleichsam dauerzappligen Elektro-Eklektikern von Hot Chip entstehen konnte, die kurzerhand die Produktion für Ibibio Sound Machines viertes Album übernahmen. Eine Entscheidung, die Alexis Taylor und Co. mit einem leicht zuckenden Auge minimal bereuen könnten, da jenes "Electricity" in Sachen hochkinetischen Elektro-Pops ihr eigenes, kurz darauf erschienenes "Freakout/Release" klar übertrumpft.
Die Synergien der beiden Bands bündelt bereits der Opener perfekt. Ein von Al Doyle kontrollierter Synth-Dämon frisst sich durch "Protection from evil", bis ihn eine tapfere Bläser-Front konfrontiert, die jedoch sofort in industrieller Säure verschwindet. Williams spuckt ihm aggressive Beschwörungen entgegen, ob sie ihn damit befeuern oder vertreiben will, bleibt im Unklaren – doch wen juckt's im Angesicht der jede Sprache sowieso nichtig machenden Sogkraft der Musik? Die Bedeutungslosigkeit leerer Worte thematisiert der Titeltrack explizit, der mit Flöten, Midtempo-Polyrhythmik und weniger abrasivem Gesang offener, aber genauso einnehmend wie das Eröffnungsmonster daherkommt. Der Soul von Williams' beeindruckender Stimme hält auch "Casio (Yak nda nda)" zusammen, während um sie herum die elektronischen Funken sprühen. Prozessor-Pop nahe der Überhitzung, weswegen der Vocal-Sample-Ambient von "Afo ken doko mien" schnell die nötige Abkühlung liefert.
Es ist neben dem ebenfalls chilligeren "Almost flying" die einzige Verschnaufpause eines Albums, das keine andere Richtung als ein durch den ganzen Körper pulsierendes Vorwärts kennt. "All that you want" koppelt eine Killer-Hook nach der anderen an ein markantes LCD-Soundsystem-Riff und gut aufgelegte Posaunen, "Something we'll remember" wächst auf seinen Arpeggios und Licks einfach immer weiter, bis nur noch der euphorische Ausbruch aus dem Gewächshaus übrigbleibt. An anderer Stelle legt das besonders ruhelose "Wanna see your face again" die Wurzeln des klassischen Deep House offen, die in den vergangenen Jahrzehnten so mancher unter diesem Label firmierender Club-Pumper entstellt hat. "Electricity" schmeißt mit wahnsinnigen Grooves und Refrains so unaufhaltsam um sich, wäre die Platte eine zu problematischen Posts neigende Influencerin, müsste man ihr nach zehn Sekunden das Smartphone wegnehmen.
Mit besagten Songs beweisen Ibibio Sound Machine ihre Brillanz vor allem auf der synthetischeren Seite ihres Stilspektrums, doch auch die organische kommt keinesfalls zu kurz: Man höre etwa den Kuhglocken-Kopfnicker "Truth no lie" mit seinem durch den Disconebel schneidenden Gitarrensolo oder die jazzige Fela-Kuti-Verbeugung "Oyoyo". Der hibbeligste Track unter fast ausschließlichen Tanzbein-Stimulatoren ist "17 18 19", dessen arschcool gebasster Art-Punk-Funk wie eine verlorene Kollabo-Single von Grace Jones und Talking Heads klingt. "Freedom" verkündet schließlich der Closer mit Gesangsunterstützung von Adenike Ajayi, während seine technoiden Beat-Splitter die Wassertrommeln des kamerunischen Baka-Volks imitieren sollen. Nicht der einzige und hoffentlich nicht der letzte von Ibibio Sound Machine erschaffene Moment, der im Bewegungsrausch Sprach- und Kulturgrenzen verschwimmen lässt, als wären sie nie dagewesen.
Highlights
- Protection from evil
- Electricity
- All that you want
- 17 18 19
Tracklist
- Protection from evil
- Electricity
- Casio (Yak nda nda)
- Afo ken doko mien
- All that you want
- Wanna see your face again
- 17 18 19
- Truth no lie
- Oyoyo
- Something we'll remember
- Almost flying
- Freedom
Gesamtspielzeit: 48:31 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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Hierkannmanparken Postings: 1559 Registriert seit 22.10.2021 |
2023-01-07 12:18:21 Uhr
Wie genial ist denn Protection from Evil! Ich liebe es, gerade dieses immer wieder rhythmisch versetzte Schlagzeug. |
Enrico Palazzo Postings: 5083 Registriert seit 22.08.2019 |
2023-01-03 21:34:49 Uhr
Top Album und bei mir in den Top10 des Jahres. |
Armin Plattentests.de-Chef Postings: 27648 Registriert seit 08.01.2012 |
2023-01-03 20:36:41 Uhr - Newsbeitrag
Frisch rezensiert. "Vergessene Perle 2022"! Meinungen? |
Enrico Palazzo Postings: 5083 Registriert seit 22.08.2019 |
2022-11-25 22:33:45 Uhr
Ist so. |
ichreitepferd Postings: 961 Registriert seit 22.04.2021 |
2022-11-25 17:37:26 Uhr
Vergessene Perle |
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Referenzen
Hot Chip; LCD Soundsystem; The Juan MacLean; Charlotte Adigéry & Bolis Pupul; Grace Jones; Betty Davis; Chaka Khan; Donna Summer; Jean Carn; Escort; Sharon Jones & The Dap Kings; Giorgio Moroder; Chic; Daft Punk; Vitalic; Talking Heads; Tom Tom Club; ESG; Gary Numan; Pet Shop Boys; Kraftwerk; Hercules And Love Affair; Fela Kuti; Mulatu Astatke; Hugh Masakela; William Onyeabor; Francis Bebey; Tony Allen; John Wizards; Prince; Janelle Monáe; Sinkane; Genesis Owusu; Sudan Archives; Afrika Bambaataa
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- Ibibio Sound Machine - Electricity (8 Beiträge / Letzter am 07.01.2023 - 12:18 Uhr)