Anti-Flag - Lies they tell our children

Spinefarm / Universal
VÖ: 06.01.2023
Unsere Bewertung: 6/10
Eure Ø-Bewertung: 4/10

Zahnlose Zeiten
Es ist eine Krux. Die Welt ist derzeit so grausam wie lange nicht. Despoten verbreiten Lügen für den eigenen Machterhalt, zetteln brutale Kriege an, unterdrücken Bürger*innen. Vermehrt werden Journalist*innen bedroht, und die soziale Ungleichheit reißt tiefe Gräben der gesellschaftlichen Spaltung, selbst in reichen Ländern. Eigentlich eine Epoche wie geschaffen für den Punkrock und seine Botschaften. Doch den Polit-Bands wie Anti-Flag, Rise Against oder Against Me! hören gefühlt immer weniger Menschen zu. Nun sind absolute Zahlen schwerlich messbar, aber zumindest ist der gesellschaftliche Punch jener Truppen deutlich weniger wuchtig als etwa um das Jahr 2004 herum, als sich in Amerika eine breite musizierende Allianz gegen Präsident George W. Bush formierte und sich gefühlt die Hälfte der Amerikaner in schwarze "Not my President"-Shirts warf. Und auch wenn alles um uns herum diffuser und schwerer zu greifen scheint, angesichts der Probleme in den USA und des Weltgeschehens würden nicht wenige Mister Bush als Feindbild Nummer eins zurückhaben wollen, wenn auch eher nicht mit Kusshand.
What happened to good old Punkrock? Nun, Anti-Flag, die Polit-Institution aus Pittsburgh, ist schlicht und ergreifend noch immer da. Seit mehr als 30 Jahren. Und Justin Sane & Co. sind motiviert. Haben sich den Dicke-Hose-Produzenten von Good Charlotte ausgeliehen, um ihr erstes offizielles Konzeptalbum zu realisieren. Und dazu jede Menge namhafte Musiker*innen-Buddies: Tim McIlrath von Rise Against, Brian Baker von Bad Religion, Shane Told von Silverstein, Jesse Leach von Killswitch Engage, Stacey Dee von Bad Cop/Bad Cop, um nur einige zu nennen. Und last but not least: Campino. Kaum verwunderlich, dass das 13. Studiowerk "Lies they tell our children" mit "Oh"s wie "Ah"s und Singalong-Grölrefrains um sich schmeißt wie einst Aale-Dieter mit seinen länglichen Schuppentieren aufm Hamburger Fischmarkt. "Victory or death (We gave 'em hell)", ebenjene Co-Produktion mit dem Hosen-Sänger, tönt nicht nur plakativ im Titel, sondern klingt auch mehr nach abgelutschtem Kaugummi denn nach guter Musik: Stadionbier meets "Weihnachtsmann vom Dach". Dass es knackiger geht, zeigt immerhin "Modern meta medicine" mit seinem druckvollem Beginn und schönem Refrainbogen.
Konzept steckt – neben der allumfassenden Unterdrückungs-Thematik, der zunehmenden Ausbeutung der kleinen Leute infolge von systembedingten Effekten des Neokapitalismus – insofern drin, dass sich Anti-Flag laut eigener Aussage sehr viel Mühe bei der Ausgestaltung jedes einzelnen Tracks gaben. Einher geht damit die Befürchtung, dass es hin und wieder too much sein könnte, nicht nur in Sachen Sound-Anstrich. "Laugh. Cry. Smile. Die" etwa überholt sich gleich mehrfach selbst zwischen all den Refrains und "Ohoho"s, verliert dabei leider sämtliche angedeutete Ecken und Kanten. Zum Glück zeigt nach eher schwacher erster Albumhälfte das soundmäßig ungewöhnliche und daher durchaus gewagte "Imperialism", eine Kooperation mit Ashrita Kuma von Pinkshift, ein paar Zähne und zieht das tolle "The hazardous" seine Kraft aus der brodelnden Melange von düsterem Post-Punk und einem feinen Midtempo-Refrain.
Toll auch: Vor dem versöhnlichen Closer platziert die Band das ausufernde und zugleich immer antreibende "Nvrevr". Einen solch kraftvollen und dennoch poppigen Hit macht dem US-Quartett, hier verstärkt von der Frontfrau der Kolleg*innen von Bad Cop/Bad Cop, so schnell keiner nach. Punkrock-Bands sehen die Relevanz des Aufschreis, sehen weiterhin ihre Aufgabe, lautstark aufzuklären. Anti-Flag möchten die Menschen nach wie vor für ihre Themen begeistern. Vielleicht liegt es aktuell auch einfach ein wenig daran, dass die Wege der Kommunikation, der sozialen Interaktion, sich gegenüber 2004 radikal gewandelt haben: Denn selbst wenn Du und Dein Iro aufm Foto schick ausschauen, sind Anti-Flags Themen einfach nicht für die Instagram-Bubble geschaffen. Die Sehnsucht nach Schönem, das Abtauchen in die Wohlfühlwelt des Netzes, lässt die Realität zusehends zahnlos zurück. Auch das sollte uns zum Nachdenken animieren.
Highlights
- Modern meta medicine
- The hazardous
- Nvrevr
Tracklist
- Sold everything
- Modern meta medicine (feat. Jesse Leach)
- Laugh. Cry. Smile. Die (feat. Shane Told)
- The fight of our lives (feat. Tim McIlrath & Brian Baker)
- Imperialism (feat. Ashrita Kumar)
- Victory or death (We gave 'em Hell) (feat. Campino)
- The hazardous
- Shallow graves (feat. Tré Burt)
- Work & struggle
- Nvrevr (feat. Stacey Dee)
- Only in my head
Gesamtspielzeit: 35:22 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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Mclusky Postings: 19 Registriert seit 09.04.2016 |
2023-01-15 01:21:19 Uhr
Starkes Album. Deutlich besser als die vorhergehenden Releases. 8/10 |
Autotomate Postings: 6174 Registriert seit 25.10.2014 |
2023-01-14 16:05:33 Uhr
Muss jetzt doch zugeben, dass die Chorusteile...qAttack after attack When living in this nightmare is a total laugh ... And when the wolves attack There ain't no ground that I'm ever giving back ...von "NVREVR" mir nicht aus dem Kopf gegangen sind, so dass ich den Song nochmal hören musste. Schade halt, dass die Chorusteile... I never, ever, ever Never, ever, ever ...und die massive "Who-ho-ho"-Attacke zum Ende hin das Ganze gleich wieder komplett versauen :( |
Klaus Postings: 10464 Registriert seit 22.08.2019 |
2023-01-13 00:22:12 Uhr
In einem Song wird übrigens die Mär vom Apartheitsstaat Israel - in Bezug auf Palästina - aufgegriffen. |
Autotomate Postings: 6174 Registriert seit 25.10.2014 |
2023-01-13 00:17:31 Uhr
Gerade durchgehört. Die ewigen "Who-ho-hos" (wie groß kann die O-Kapazität eines Albums sein?) haben mich zwar durchgängig mit spitzen Fingern nach den Kopfhörern greifen lassen, aber ich dachte, ach komm Junge, hier kannst du mal Kern beweisen, und so hab ich mich, getragen von Justin Sanes Pop-Punk-Stimmchen, über zahlreiche stereotype Saitenrutschen und den scheußlichen Song mit Campino weiter durch diese weitgehend glattgebügelte Produktion geackert und frage mich nun, ob mir die neue Freude an der Stille nach diesem Album nicht ebenfalls 6 Punkte wert sein könnte. Schon möglich... |
Armin Plattentests.de-Chef Postings: 28240 Registriert seit 08.01.2012 |
2023-01-03 20:38:06 Uhr - Newsbeitrag
Frisch rezensiert. Meinungen? |
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Referenzen
Rise Against; Propagandhi; Against Me!; Iron Chic; Green Day; 88 Fingers Louie; Bad Religion; No Use For A Name; The Bouncing Souls; NOFX; Strung Out; Lagwagon; The Baboon Show; Millencolin; No Fun At All; Alkaline Trio; Satanic Surfers; Randy; The Offspring; The Flatliners; Against All Authority; Lars Frederiksen & The Bastards; Frank Carter The Rattlesnakes; Frank Turner; Good Charlotte; Blink 182; Donots; Rancid; The Living End; The Interrupters; Silverstein; The Smith Street Band; Brand New; New Found Glory; The Ataris; Pinkshift; Spanish Love Songs; Tiny Moving Parts; Beatsteaks; Rufio; Bad Cop/Bad Cop; Motion City Soundtrack; The Menzingers; The Juliana Theory; The Starting Line; Taking Back Sunday; The Wonder Years; Killswitch Engage; Matchbook Romance; Funeral For A Friend; Die Toten Hosen; ZSK; WIZO; Pascow; The Used; My Chemical Romance; Fightstar; Ramones; Sex Pistols
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