David Bowie - Moonage daydream - Music from the film
Rhino / Parlophone
VÖ: 16.09.2022
Unsere Bewertung: 9/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
Kubistisches Porträt
Kaum ein Künstler hat je den Raum zwischen Präsenz und Entzug genauer vermessen als David Bowie. Unmittelbar steigen bei jeder und jedem Bilder über seinem Namen auf, ikonische und unverkennbare, doch kein einzelnes vermag wiederzugeben, wer Bowie gewesen sein mag: Es gibt ihn nur im Plural. Getreu dem Whitman'schen Credo "I contain multitudes" versammelt sich ein ganzes Ensemble, wenn man ihn ruft: Major Tom, im All verloren, Ziggy Stardust, auf der Erde verloren, Aladdin Sane, von Glamour und Blitzen gezeichnet, The Thin White Duke, der auf der verzweifelten Suche nach Erlösung den Größenwahn zum Feind hat. Eine Liste, die nicht ansatzweise erschöpfend ist, im Prinzip gerade einmal eine knappe Dekade einer rund 50 Jahre währenden Laufbahn umfasst. Dann wären da noch ironische Ausflüge in den Soul, Diskobesuche, die industriell wummernde Härte der 90er-Jahre und das tief bewegende Memento mori "Blackstar", in dem Bowie seinem eigenen Tod mit erschütternder schöpferischer Kraft begegnet. Und mittendrin eine Trilogie, welche die Rockmusik durch unbehagliche Grooves und desolate Ambient-Täler an die Grenzen des Sagbaren führte: "Low", "Heroes", "Lodger" – allesamt Zeugnis einer Sprachkrise, Post-Punk, bevor der Punk sich überhaupt ausgebrüllt hatte.
Dieser Abriss soll vor allem einen Aspekt betonen: Bowies Spiel mit der Multiperspektivität ließ ihn selbst zu einem virtuosen Gestaltenwandler werden, der im Rätsel, als Ungreifbarer seine Heimat fand. Ihn fixieren zu wollen, ist ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen. Regisseur Brett Morgen konzipiert seinen kürzlich veröffentlichten Dokumentarfilm "Moonage daydream" auch darum entlang der Bruchlinien eines unglaublichen Lebens, mit großteils positiver Resonanz. Der dazu gehörige Soundtrack macht es – vielleicht gar nicht mal unpassend – zunächst schwer begreiflich, was er überhaupt sein will. Über zweieinhalb Stunden kompiliert er Interviewauszüge, Demotapes, Live-Aufnahmen, alternative Versionen und einen riesigen Haufen Remixes, die sich über die gesamte Karriere Bowies erstrecken, einen Schwerpunkt aber auf die 70er-Jahre legen. Heraus kommt so etwas wie eine alternative Werkschau, die von Bowies Spoken-Word-Einlagen gelegentlich zusammengehalten wird. Und so ist es kein Zufall, dass "Moonage daydream" zu dunklen Synthies mit einer profunden Reflektion über die Vergänglichkeit einsetzt – wie entsteht Sinn in ihrem Angesicht? Bowie, ganz das Mysterium, verschwindet sogleich hinter seiner Kunst: "But you somehow feel that it's not you yourself that the word is addressing / It washes over you."
In der Folge schält sich der Remix von "Hallo spaceboy" aus dem Nebel, etwas entrückter klingt er als die Version auf dem 1995er-Highlight "Outside", auch treten die Pet Shop Boys aus dem Hintergrund dazu. Neu abgemischte Stereo-Versionen des 1973er-Live-Soundtracks zur Ziggy-Stardust-Periode präsentieren Bowie stimmgewaltig, seine Band tight und energetisch – der Außerirdische ist auf der Erde gelandet, scheint die Erzählung des Albums zu sein. Vor allem der Titelsong zu Morgens Dokumentarfilm gerät zu einer wilden Rock'n'Roll-Ekstase, in deren zweiter Hälfte Mick Ronsons Gitarrensolo das Raum-Zeit-Kontinuum zu sprengen scheint. Etwas irritierend, dass die Konzertaufnahmen vom 2016er-Remix des unsterblichen "Life on Mars?" unterbrochen werden, das den Gesang kristallklar hervorhebt, Schlagzeug und Lead-Gitarre hingegen wegzaubert. So weit, so brillant, so bekannt das Material – starke Akzente des Soundtracks setzen jedoch selbstredend die bislang verschütteten Passagen. Allen voran "Jean Genie" als knapp achtminütiger Blues-Stampfer unter famoser Mithilfe von Jeff Beck am Sechssaiter, der dann auch noch aus dem Nichts den Beatles-Durchbruch "Love me do" interpoliert. Hier wirkt es wirklich, als vermöge das Heilsversprechen des Rock alle Schranken zu überwinden und in einer Explosion der Gegenwart aufzuheben.
Auf der zweiten CD tritt der Anteil der Live-Aufnahmen deutlich zurück, stattdessen werden vorrangig Neuabmischungen bekannter Stücke vorgestellt. Auch "Sound and vision" bekommt lautere Vocals zugunsten seines Gitarrenriffs spendiert, außerdem eine Mundharmonika, die fließend in die deutlich beschwingtere Fassung von "A new career in a new town" übergeht. Viele der Remixes fokussieren anders als ihr kanonisches Ausgangsmaterial, betonen Facetten und einzelne instrumentale Spuren, die eine frische Wiederbegegnung ermöglichen. "D.J." vom immer schon etwas wässrig produzierten "Lodger" profitiert dabei durchaus, der Klassiker "Ashes to ashes" tanzt aufgeräumter, aber auch weniger dynamisch durch seine Abgründe. "Modern Love" wird astrein dekonstruiert, startet mit der isolierten Pianomelodie und setzt sich Schicht um Schicht zusammen. Der gospelhafte Existenzkampf von "Word on a wing" gerät – von Piano und Bass getragen – nun eher zur sommerlich-wehmütigen Ballade, brutal konterkariert von Bowies Industrial-Phase.
Während also "Moonage daydream" musikalisch meist über jeden Zweifel erhaben bleibt, drängt sich bald durchaus die Frage auf, wer hier eigentlich die Zielgruppe ist. Natürlich dürften selbst große Bowie-Afficionados noch das eine oder andere Schmuckstück entdecken, auch wenn manches bereits an anderer Stelle veröffentlicht wurde. Und es schadet beispielsweise nicht, daran erinnert zu werden, was für umwerfende Akkordfolgen den Refrain von "Quicksand" zum Schweben bringen, das hier in einer aufs Wesentliche reduzierten frühen Studioversion erstrahlt. Doch betrachtet man das Album als solches, wirkt mitunter seine Sequenzierung etwas holprig – ein Medley der hart rockenden "Diamond-dogs"-Phase auf eine unspektakuläre Live-Performance des Ambient-Stücks "Warsaw" folgen zu lassen, das anschließende windschiefe Live-Crooning von "Rock'n'roll with me" wiederum mit einer kaum veränderten Studioaufnahme von "Aladdin Sane" zu beantworten, löst beispielsweise ein gewisses Schleudertrauma aus. "Space oddity" verknüpft in der hier verwendeten Variante Bowies frühe Studioversion mit einer deutlich späteren Live-Aufnahme, als wollte es den Prozess des Alterns in der Patina der Stimme illustrieren – ein spannendes Experiment, doch fragt man sich, ob es jemand nach der ersten Neugier je dem Original vorziehen würde.
Das soll selbstverständlich nicht davon ablenken, dass "Moonage daydream" über seine gesamte Spielzeit großartige Musik zusammenstellt und riesige Freude bereitet. Auch wird die Irritation bald programmatisch. Denn die teils harten Schnitte zwischen Bowies diversen Ären entpuppen sich als Leitmotiv, gleichsam als Versuch eines transepochalen Dialogs. "Time may change me / But I can't trace time", heißt es bekanntlich in "Changes" – eine Einsicht, die im verblüffenden "Cygnet committee / Lazarus" illustriert wird, das auf berührende Weise den ganz frühen mit dem ganz späten Bowie verbindet. Rick Wakemans ausgiebiges Cembalo-Solo mündet in Bowies energischem Bekenntnis "I want to live", 1969 eingesungen. Dann zweigt der Remix unerwartet ab und weht eine Zeile aus "Lazarus" heran, die Bowie kurz vor seinem Tod einsang: "Ain't that just like me." Zum Ende hin löst sich der Mammut-Soundtrack immer stärker in geisterhaften Schemen und Sphären auf, die einzelnen Tracks bleiben kurz und skizzenhaft. Insgesamt entsteht eine Art kubistisches Porträt, das immer wieder die Blickachse wechselt, aus der heraus es zeichnet: So wird der je eigene Wert verschiedener Rezeptionsweisen und Haltungen zu Bowies Diskografie betont. Dem Rezensenten bietet es nicht zuletzt ein Sprungbrett, sich einmal mehr in den unerschöpflichen Untiefen eines der schillerndsten Werke der Musikgeschichte zu verlieren. Zwei Spoken-Word-Schnipsel beschließen diese wilde Reise. "All people, no matter who they are, they all wish they'd appreciated life more", heißt es im einen, "It's nice to have met you, I'm glad we did finally meet at last", im anderen. Und jetzt macht Euch Eure eigenen Gedanken.
Highlights
- Life on Mars? (2016 Mix Moonage daydream Edit)
- Moonage daydream (Live)
- The Jean Genie / Love me do / The Jean Genie (Live) (feat. Jeff Beck)
- Quicksand (Early version 2021 mix)
- Sound and vision (Moonage daydream Mix)
- Cygnet committee / Lazarus (Moonage daydream mix)
- Modern love (Moonage daydream mix)
- Word on a wing (Moonage daydream mix)
- Changes
Tracklist
- CD 1
- "Time… one of the most complex expressions…"
- Ian Fish U.K. heir (Moonage daydream mix 1)
- Hallo spaceboy (Moonage daydream remix edit)
- Wild eyed boy from Freecloud / All the young dudes / Oh! You pretty things (Live) (Stereo)
- Life on Mars? (2016 Mix Moonage daydream edit)
- Moonage daydream (Live)
- The Jean Genie / Love me do / The Jean Genie (Live) (feat. Jeff Beck)
- The Light (Excerpt)
- Warszawa (Live Moonage Daydream edit)
- Quicksand (Early version 2021 mix)
- Future legend / Diamonds dogs Intro / Cracked actor
- Rock'n'Roll with me (Live in Buffalo 8th November 1974)
- Aladdin Sane (Moonage daydream edit)
- Subterraneans
- Space Oddity (Moonage daydream mix)
- V-2 Schneider
- CD 2
- Sound and vision (Moonage daydream mix)
- A new career in a new town (Moonage daydream mix)
- Word on a wing (Moonage daydream excerpt)
- Heroes (Live Moonage daydream edit)
- D.J. (Moonage daydream mix)
- Ashes to ashes (Moonage daydream mix)
- Move on (Moonage daydream acappella mix edit)
- Moss garden (Moonage daydream edit)
- Cygnet committee / Lazarus (Moonage daydream mix)
- Memory of a free festival (Harmonium edit)
- Modern love (Moonage daydream mix)
- Let's dance (Live Moonage daydream edit)
- The mysteries (Moonage daydream mix)
- Rock'n'roll suicide (Live Moonage daydream edit)
- Ian Fish U.K. heir (Moonage daydream mix 2)
- Word on a wing (Moonage daydream mix)
- Hallo spaceboy (live Moonage daydream mix)
- I have not been to Oxford Town (Moonage daydream acappella mix edit)
- Heroes: IV. Sons of the silent age (Excerpt)
- Blackstar (Moonage daydream mix edit)
- Ian Fish U.K. heir (Moonage daydream mix excerpt)
- Memory of a free festival (Moonage daydream mix edit)
- Starman
- "You're aware of a deeper existence…"
- Changes
- "Let me tell you one thing…"
- "Well, you know what this has been an incredible pleasure…"
Gesamtspielzeit: 139:27 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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musie Postings: 3950 Registriert seit 14.06.2013 |
2022-12-22 13:44:37 Uhr
Oha schneit hier zum Jahresende noch die Rezi des Jahres herein? Kompliment! Genauso gut und vielschichtig wie das Album. |
Armin Plattentests.de-Chef Postings: 27369 Registriert seit 08.01.2012 |
2022-12-21 20:10:34 Uhr - Newsbeitrag
Frisch rezensiert.Meinungen? |
fakeboy Postings: 5303 Registriert seit 21.08.2019 |
2022-05-24 14:09:52 Uhr
Sieht sehr vielversprechend aus:https://youtu.be/L61SJbLhTqE |
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Referenzen
Tin Machine; Lou Reed; The Velvet Underground; Roxy Music; Iggy Pop; T. Rex; The Stooges; Brian Eno; Suede; Elton John; Pet Shop Boys; Bryan Ferry; Elvis Costello; Talking Heads; Television; Arcade Fire; The Smashing Pumpkins; T. Rex; Placebo; Pat Metheny; Jarvis Cocker; Pulp; John Lennon; David Byrne; The Divine Comedy; The Cure; Blondie; The Smiths; Bauhaus; Steve Reich; Leonard Cohen; Scott Walker; Slade; The Sweet; Neil Young; Bob Dylan
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