Carly Rae Jepsen - The loneliest time
School Boy / Interscope / Universal
VÖ: 21.10.2022
Unsere Bewertung: 7/10
Eure Ø-Bewertung: 5/10
California feelin'
"I can feel the darkness sometimes too." Worte, die man nicht unbedingt aus dem Mund Carly Rae Jepsens erwartet – doch warum eigentlich? Trotz all ihrer naiven Euphorie war ihre Musik schließlich immer schon weniger Eskapismus und mehr Potenzierung des innersten Gefühls – Liebesglück und Herzschmerz in einer Dimension, dass sie die breitesten Plakatwände der Welt ausfüllen. Wenn das vielsagend betitelte "The loneliest time" nun also in der Pandemie-Isolation entstand, während derer die Kanadierin ihre geliebte Großmutter verlor und sie aufgrund von Reisebeschränkungen nicht einmal vor Ort betrauern konnte, ergibt die eingangs zitierte Zeile plötzlich Sinn. Sie stammt aus "Bends", das zwar weitaus mehr als einen fehlenden Artikel von Radiohead entfernt ist, dennoch eine subtilere, matter funkelnde Variante von Jepsens Synth-Pop-Diamanten darstellt. Die Schwertführerin der puren Freude am Pop-Banger auf den Spuren ernsteren, alternativen Songwritings? So einfach lässt sich Album Nummer sechs nun auch nicht einordnen.
Denn Jepsen zieht unbeirrt von den Imagewechseln mancher ihrer Kolleginnen im Pop-Olymp einfach weiter ihr Ding durch. "Surrender my heart" ist ein ganz typischer Opener von ihr, der mit großem Glitzer-Knall im Refrain die eigene emotionale Aufrichtigkeit von der Skepsis zum Triumph überführt: "So I've been trying to open up / When I lost someone it hit me rough / I paid to toughen up in therapy / She said to me, 'Soften up'." "Talking to yourself" singt von einem Ex, der die Erzählerin nicht aus dem Kopf bekommt, und erzielt mit Achtziger-Gitarren-Bohrer und "E·mo·tion"-würdiger Hook einen vergleichbaren Effekt im Gehörgang. Doch die 36-Jährige will sich nicht auf eine Persona festnageln lassen. Da spaziert sie im funkigen "Sideways" Hals über Kopf verliebt durch die Straßen, nur um "Beach house" hinterher zu schieben, eine satirische Abrechnung mit der modernen Dating-Hölle. Wie in einem Gruselkabinett offenbaren die scheinbar perfekten Typen ihr wahres Ich hinter dem Tinder-Profil, vom Hallodri, der sich Geld "leihen" will, bis zum vermeintlichen Serienkiller: "I got a lake house in Canada / And I'm probably gonna harvest your organs." Ein von Jepsens sonstigem Verständnis von Romantik abweichender Zynismus, aber auch ein großer Spaß.
Gerade in solchen Experimenten wirkt "The loneliest time" befreit, woran auch das neu artikulierte Verhältnis zur Wahlheimat seinen Anteil hat. "Now I don't hate California after all", erklärte Jepsen bereits im Closer der "Dedicated"-B-Seiten-Sammlung, nun lässt sie im Angesicht eines "Joshua tree" die Sinne fließen und sich vom "Western wind" das Haar streicheln. Letztgenannter, von Rostam Batmanglij produzierter Track fängt das warme Idyll auch musikalisch ein, entfaltet sich als mit Piano, Congas und Mini-Solo wunderbar arrangiertes, perkussiv-verträumtes Indie-Pop-Stück – stilistisch ähnlich ist sonst nur das Zweite-Chance-Versprechen "Far away", das sich in einer atmosphärischen Bridge auflöst. Den größten Ausreißer bildet allerdings das ebenfalls mit dem Ex-Vampire-Weekend-Mann entstandene "Go find yourself or whatever". Mehr als nur eine Brise des Laurel-Canyon-Folks weht zwischen den akustischen Saiten und Sitar-Klängen, über die Jepsen den titelgebenden Satz nicht als verbitterte Abfuhr, sondern als reflektiertes Loslassen äußert. So nachdenklich und nuanciert hat man sie in ihrer Karriere noch nicht gehört.
Dass dieser Song als krasser Bruch auf "Shooting star" mit seinen Vocoder-Sternschnuppen und der "I might sleep with you"-Eröffnung folgt, ist exemplarisch für Jepsens Selbstverständnis. Es geht ihr weder um künstlerische Neuerfindung noch um einen kohärenten Flow – auch wenn die etwa von "So nice" und "Bad thing twice" repräsentierte Rollschuh-Disco-Ästhetik die Grundlage der Platte bildet –, sondern sie macht schlicht das, worauf sie Bock hat. Für den abschließenden Titeltrack holt sie gar Landsmann Rufus Wainwright ins Boot, um ein opulentes, Streicher-untermaltes Hollywood-Duett auf die Tanzfläche zu strahlen. Das ist campy und kitschig as fuck, aber genau das ist ja der Appeal dieser Musik. Carly Rae Jepsen fühlt jedes Gefühl immer mit der maximalen Intensität – und wer ihr zuhört, kriegt von diesem Emotionsüberschuss mehr als nur ein paar Funken ab.
Highlights
- Surrender my heart
- Talking to yourself
- Western wind
- The loneliest time (feat. Rufus Wainwright)
Tracklist
- Surrender my heart
- Joshua tree
- Talking to yourself
- Far away
- Sideways
- Beach house
- Bends
- Western wind
- So nice
- Bad thing twice
- Shooting star
- Go find yourself or whatever
- The loneliest time (feat. Rufus Wainwright)
Gesamtspielzeit: 42:21 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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Vennart Postings: 999 Registriert seit 24.03.2014 |
2022-11-24 23:19:36 Uhr
Da ist was dran Saschek, bin erst beim zweiten Lied aber die ersten beiden sind auf Anhieb gleich mal zwei echte Knüller. |
Saschek Postings: 623 Registriert seit 23.07.2018 |
2022-11-23 23:19:57 Uhr
Klasse Rezi. Danke, dass Ihr's noch nachgereicht habt. Ich mag es auch ganz gerne. Für mich eine kleine Überraschung. Klar - nichts maximal Besonderes. Aber irgendwie sympathisch. Und ein paar Knüller sind durchaus drauf. Die ersten drei Songs beispielsweise. |
Armin Plattentests.de-Chef Postings: 27355 Registriert seit 08.01.2012 |
2022-11-23 21:51:09 Uhr - Newsbeitrag
Frisch rezensiert.Meinungen? |
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