Fjørt - Nichts
Grand Hotel van Cleef / Indigo
VÖ: 11.11.2022
Unsere Bewertung: 8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
Tiefe Risse
Wir erinnern uns gut, als Love A 2017 konstatierten, dass ein jeder Mensch Kanten brauche. Kanten und daraus entstehend Risse, nicht im Sinne von Anzeichen des Zerfalls gedeutet, sondern als Resultat von menschlichem Dasein, als nützliches Instrument. Risse, durch die man nach Luft schnappen und den Alltagsärger ablassen kann. "Du musst schon noch dran glauben / Ich hab nie behauptet / Durch die Risse geht nichts rein und raus", sieht auch das Aachener Trio Fjørt im epischen und titelgebenden Eröffnungs-Akt die Chance des Appells, nicht den Mut zu verlieren in einer verkrusteten, mehr und mehr blockierten Gesellschaft. In jenem Jahr 2017 zogen Fjørt nachdrücklich bewaffnet mit größtmöglichem Klartext gegen Rückwärtsgewandtheit und Fremdenfeindlichkeit durch ein von rechten Demagogen aufgewühltes Land. Mit dem brillianten "Couleur" erschuf man ein Album, dessen hoch oben thronende Messlatte es zur Herausforderung macht, die Augenhöhe zu finden, die man auch im politischen Diskurs mehr und mehr vergebens sucht. Doch seither hat sich Vieles erneut verschoben. Globale Pandemie, Folgekrisen und drohende Rezession als Bonus.
Auch im Land der Dichter und der nicht mehr ganz dichten (Quer-)Denker scheint auch einiges im Wandel – leider ebenfalls nicht zum Guten. Entsprechend düster ist auch die Tonlage von "Nichts", dem fünften Longplayer der Post-Hardcore-Truppe, die den Stimmungsdaumen wie kaum eine andere nach unten zu senken vermag. Ein Album, von dem man aber bereits positiv überrascht wurde, ohne einem einzigen Ton gelauscht zu haben. Denn sehr lange war es still um Fjørt. Auf einmal dann Konzerte. Zwei Städte, acht Shows, je vier an einem Tag. Von Null auf Hundert, dann die Albumankündigung. Neustart statt Abschied - zum Glück! Doch lauscht man "Nichts", sollte dies ein seltener Aufatmer sein. Bleischwer und mit tiefgepolten Riffs ballert etwa "Schrot" aus den Boxen. Die unverkennbare Wucht von Fjørt – nicht nur dann eine wohltuend freipustende Erfahrung, wenn man die Regler aufdreht. "Bonheur" trägt immerhin etwas Hoffnung in sich, macht sich auf die Suche nach dem verborgenen Etwas, das das große Ganze vielleicht besser machen kann. Ein Stück, das wie auch "Feivel" klangtechnisch die Brücke zum Vorgänger schlägt.
Doch Fjørt haben ihren so typischen Sound weiterentwickelt. "Fünfegerade" punktet mit flirrend geknüpftem Gitarrenteppich und entsprechend feiner Atmosphäre. Im luftigen und zugleich brachialen "Kolt" gibt es ein Spoken-Word-Thema und Klartext zur Doppelmoral, deutlich häufiger vernimmt man Gesang statt Geschrei wie in "Fernost", elektronische Sprenkel vermehren sich, was durchaus eine gewisse Eingewöhnung erfordert. Der Pop-Olymp ist für die Aachener jedoch selbstverständlich weit entfernt. "Nichts" ist das zerfahrene aber nicht fahrige Album nach dem Aufschrei, die Band gibt sich beobachtend, in leicht resignierter Gewissheit, dass viele Appelle zum Zusammenhalt verpufft sind. Dennoch ist "Nichts" musikalisch zum Teil härter geraten als Vieles bisher. Melodiebögen und Refrains sind teils umgepolt: Weniger "Magnifique", mehr Moll, mehr Kraft des Dunklen. Und von Seiten des Drum-Kits gibt es jede Menge Prügel. Vielleicht, weil Zeiten wie diese mehr denn je nach Schonungslosigkeit lechzen.
"Lakk" steht in ebenjenem Lichte und weiß: Wenn es etwas gibt, das für Größenwahn, Rücksichtslosigkeit und soziale Kälte der Wohlstandsgesellschaft steht, ist es der ungezügelte Konsum. "Salz", ein Stück über die ewige Mär von der sich eines Tages lohnenden Leistung, poltert als Hardcore-Punker los, bevor das Riff umschlägt und den Song beinah in einen Metalcore-Hünen verwandelt. Das knackige "SFSPC" mäandert zwischen Punk und Post-Hardcore und schlägt in mehrfach in beide Richtungen aus. Treffer? Zielgenau einschlagend in der Magengegend. Schlussendlich perfektioniert oder, ähm, K.O. gehauen vom epischen "Lod", einem fast sechsminütigen, Death Metal infizierten Brocken, welcher als finaler Akt dieser fast 50 eindrucksvollen Fjørt-Minuten offene Münder hinterlässt. "Ich tue gar nichts / Weil es so gemütlich ist hier bei uns", bringt "Kolt" die eingangs erwähnte Blockade, die Lethargie von Politik und Gesellschaft angesichts uns auffressender Probleme auf den Punkt. Was bleibt ist die News-Endlosschleife aus Kriegen, Krisen und progostizierten Schreckensszenarien, rasend schnell getaktet im persönlichen Kuggellauf namens Social Media, kompensiert von One-Pot-Kochvideos und süßem Katzen-Content. Und die Risse? Werden tiefer und tiefer.
Highlights
- Nichts
- Salz
- Kolt
- Fünfegerade
- Lod
Tracklist
- Nichts
- SFSPC
- Salz
- Feivel
- Schrot
- Kolt
- Wasser
- Bonheur
- Fünfegerade
- Lakk
- Fernost
- Tau
- Lod
Gesamtspielzeit: 49:51 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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MartinS Plattentests.de-Mitarbeiter Postings: 1395 Registriert seit 31.10.2013 |
2022-11-22 18:55:45 Uhr
Bin da auch eher bei sizeofanocean, genauer hinhören darf man oft nicht und der Gestus ist auch die meiste Zeit eher anstrengend.Musikalisch finde ich den Auftakt ziemlich gut, aber auf Dauer ist der Gesang und der ganze Bombast einfach nur nervig. |
Hoschi Postings: 1857 Registriert seit 16.01.2017 |
2022-11-18 16:40:36 Uhr
Absolut verdient obwohl ich nichts auf Chart Positionen gebe.Für mich bis dato AotY ! |
Robert G. Blume Postings: 909 Registriert seit 07.06.2015 |
2022-11-18 16:20:38 Uhr
Auf Platz 8 der Charts eingestiegen. Geile Sache, Glückwunsch! 18.11.2012: zwei schreihälse und ein haudrauf mit demontage im gepäck durften im berliner tiefgrund einen abend mit O, sun worship und havarii. eröffnen und das nur weil Stateless Society bock auf den krach hatte, im wissen, dass sich sicher niemand für diese band aus aachen dorthin verirrt. 18.11.2022: viele menschen haben weitererzählt, was da so drei leute aus aachen machen und haben in der letzten woche so viele tonträger gekauft und musik auf digitalen plattformen angestubbst, dass das Grand Hotel van Cleef gerade mitteilte, dass »nichts« auf platz 8 der deutschen album-charts eingestiegen ist. die charts sind und bleiben »nichts«, zeigen aber, dass irre viele leute diese kapelle unterstützen und uns irgendwie mit auf den weg geben, weiterzumachen. Malek Scharifi postet das ganze hier gerade, während wir in unseren proberaum mit gleicher größe und lautstärke wie auf diesem bild hier wandern und für die tour im januar / februar 2023 vorbrettern. wir danken und danken und danken und bleiben verwirrt. https://www.facebook.com/fjort/posts/pfbid08QuHce8Z99GHAcS6zFRbE1Afs47f9Wof1DziXiCkebfvdWAdrgxbA1NiyYKjiGa2l |
Neuer Postings: 846 Registriert seit 10.05.2019 |
2022-11-17 12:21:03 Uhr
Jap, für mich auf Anhieb ihr bestes seit dem ruhelosen Debüt. Ob ich das hier oder das Debüt vorziehe, muss die Zeit zeigen. Aber ich freue mich sehr :D |
Neuer Postings: 846 Registriert seit 10.05.2019 |
2022-11-17 12:01:40 Uhr
Toll, dass der Schreier singen gelernt hat! Die Dynamik tut dem Sound der Band sehr gut |
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Referenzen
The Tidal Sleep; Jungbluth; Escapado; Todd Anderson; Grand Griffon; Enter Shikari; Kill Kim Novak; Alexisonfire; The Blood Brothers; Yage; Narziss; Sperling; Turbostaat; Gallows; Callejon; Days In Grief; Krank; Refused; Frau Potz; Heisskalt; Bane; Waterdown; JR Ewing; Defeater; Touché Amoré; The Bronx; Freiburg; Jet Black; Willy Fog; Casper; Marathonmann; Die Nerven; Dackelblut; Oma Hans; Blumen Am Arsch Der Hölle; Angeschissen; Kommando Sonne-Nmilch; Love A; Pascow; Danse Macabre; Angstzustand; Engrave; Orchid; Thrice; Fightstar; Duesenjaeger; ...But Alive; Koeter; Breach; Ryker's; Title Fight; El Mariachi; EA80; Trend; Razzia; Loxiran; Every Time I Die; At The Drive-In; Thursday; Deftones; Turnstile; Gallows; A Case Of Grenada
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