Will Sheff - Nothing special

ATO / PIAS / Rough Trade
VÖ: 07.10.2022
Unsere Bewertung: 8/10
Eure Ø-Bewertung: 8/10

Unscheinbar wertvoll
"Nothing special", nichts Besonderes – nicht unbedingt ein erwartbarer Titel für das erste Soloalbum eines gestandenen Indie-Musikers. Wie ist er zu verstehen? Als Geste der Bescheidenheit, des selbstironischen Understatements? Es würde passen zum Werk Will Sheffs, der bei seiner Stammband Okkervil River doch stets die enge Verbindung von Triumph und Zerbrechlichkeit betonte, mit einer unverkennbaren Stimme zwischen sachtem Wispern und ergriffenem Ausbruch pendelte und dabei so häufig eine lyrische Finesse zum Ausdruck brachte, die das eigene Fühlen ins Gewand des gewieften Storytellers zu kleiden wusste. "I wanna wander through the night / As a figure in the distance even to my own eye", sang David Berman einst: Es könnte sich zum Credo eignen für Sheffs Songwriting. Nachdem die jüngsten Alben unter dem alten Namen etwas unspektakulärer gerieten, schlägt Sheff nun ein neues Kapitel auf, das teils bereits in den vergangenen Jahren geschrieben wurde. Mit Erkundungen Südkaliforniens begann seine thematische Reise, die bald eine schwere Erschütterung erfuhr: den Tod des langjährigen Okkervil-River-Schlagzeugers und guten Freundes Travis Nelsen, der 2020 mit 44 Jahren verstarb. Im Zentrum von "Nothing special" stellt Sheff gegenüber, was ihn in der Entstehungszeit prägte – zugleich wirft er einen völlig neuen Blick auf den Albumtitel.
Die achteinhalb Minuten von "Holy man" blicken durch nostalgische Schlieren, ihre Produktion entspricht dem gedanklichen Ort, den Sheff darin artikuliert: "A sense of high charisma / Where there's a whisper / In 2:00 A.M. fog." Gemächlich ergießt sich der Song in die Weite, imaginiert eine Pilgerfahrt, während Sheff an einer einfachen Wahrheit mit spiritueller Wucht innehält: "A song is anything that's sung." Sie folgt auf die fein verästelten Folk-Melodien des Titeltracks, der ein sensibles Porträt der Trauer um den verstorbenen Freund, die verlorene Jugend zeichnet. Hier bricht sich die profunde Seite des Albumtitels Bahn: Im Gefühl des Verlusts nicht einzigartig zu sein, wird zum Trost: "When I've lost it, I'm finally free / To be nothing special."
Sheffs Solodebüt ist durchgehend eine sehr nachdenkliche Angelegenheit, die mit sachtem Tempo vorbeizieht, viel Liebe zum Detail in ihre Arrangements steckt. Verlassen kann sich der Protagonist auf eine formidable Band, zu der neben dem gelegentlichen Okkervil-River-Kollaborateur Will Graefe an der Gitarre und Death-Cab-For-Cutie-Pianist Zac Rae auch die wunderbare Cassandra Jenkins zählt, die nicht nur in der Klavierballade "In the thick of it" bezaubernde Gesangsharmonien beisteuert. Häufig beginnen die Songs mit wenig mehr als Sheff und seiner gezupften Akustikgitarre, bevor seine Mitstreiter mehr und mehr Opulenz hinzugeben. So evoziert die zweite Hälfte des Openers "The spiral season" die geerdete Sentimentalität ruhigerer The-War-On-Drugs-Momente, verschlungene Leads wirbeln durch Sheffs Bilderreichtum, der persönliche Erinnerungen in die zyklische Zeit faltet: "Years pass... I'm friends with my flaws / Glimpsing the earth through a gauze / Burnished by beautiful loss / No wiser now than I was."
Es mag abgenutzt klingen, ein Album für kontemplative Stunden bei Kerzenschein zu empfehlen, und doch war es selten so angebracht wie hier. Alle acht Stücke auf "Nothing special" haben keine Eile, nur eines endet (knapp) vor der Fünf-Minuten-Marke. Atmosphärisch konsistent bedienen sich Sheff und Co. einer größeren musikalischen Palette, als es zunächst den Anschein hat. "Estrangement zone" präsentiert von den Achtzigern durchwehten Ambient-Pop mit neonglitzernden Gitarren und eleganten Synth-Bläsern; "Like the last time" vertreibt die scheue Psychedelik seiner Strophen mit dem eingängigsten und markantesten Refrain des Albums, der zugleich vor brutzelnden Fuzz-Gitarren keinen Halt macht. Und mit seinen auf- und absteigenden Phrasierungen erinnert der feierliche Closer "Evidence" nicht nur motivisch, sondern auch gesanglich an die schrulligen Weihnachtsbetrachtungen eines Sufjan Stevens: "Is it Mary or the market speaking? / We rode that holiday wave to the weekend." Bei aller kompositorischen Versiertheit sind es dann aber einmal mehr Sheffs Texte, die über das Album hinaus nachhallen. In "Marathon girl" durchbrechen banale Alltagsmotive die Trauer, Ungefiltertes prescht durch Sheffs übliche Eloquenz: "Jogging downhill as the wind blows / Doggie alongside, and it isn't bad / Someday you're going to be super, super sad / Well, letting go is like that." Nichts Besonderes eben – und darum umso wertvoller.
Highlights
- Estrangement zone
- Nothing special
- Evidence
Tracklist
- The spiral season
- In the thick of it
- Estrangement zone
- Nothing special
- Holy man
- Like the last time
- Marathon girl
- Evidence
Gesamtspielzeit: 47:28 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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Unangemeldeter Postings: 1618 Registriert seit 15.06.2014 |
2023-07-03 23:52:50 Uhr
Läuft gerade mal wieder - und Holy Man ist einfach SO ein schöner Song! |
Kalle Postings: 441 Registriert seit 12.07.2019 |
2022-11-11 16:30:31 Uhr
Heute endlich dazu gekommen in Ruhe reinzuhören. Und was soll ich sagen: Ich bin begeistert! Tolle melodiöse Songs, hervorragend instrumentiert, aber wie Unangemeldeter schreibt, not too much. |
Unangemeldeter Postings: 1618 Registriert seit 15.06.2014 |
2022-10-20 21:22:01 Uhr
Endlich mal zum Hören gekommen: richtig schönes Album! Mich hat ja Away immer fürchterlich genervt weil es so zugekleistert ist - und ich hatte Sorge, dass das hier ähnlich klingen wird (galt ja Away damals auch schon als sein heimliches Soloalbum). Sehr zurückgenommen, die Songs haben Platz zum Atmen, toll! Was für ein Herbst: Beth Orton, Will Sheff, Florist... Ich weiß gar nicht, wem ich meine Melancholie zuerst schenken soll. |
Armin Plattentests.de-Chef Postings: 28240 Registriert seit 08.01.2012 |
2022-10-12 20:14:57 Uhr - Newsbeitrag
Frisch rezensiert.Meinungen? |
Quirm Postings: 483 Registriert seit 14.06.2013 |
2022-09-15 19:49:47 Uhr
Vorab-Songs sind alle sehr schön. Besonders "Nothing Special" und "In the Thick of It". |
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Referenzen
Okkervil River; Cassandra Jenkins; Joni Mitchell; Leonard Cohen; The Decemberists; Shearwater; Purple Mountains; Neva Dinova; Willard Grant Conspiracy; Bright Eyes; Conor Oberst; Phoebe Bridgers; Alex G.; Arcade Fire; Port O'Brien; Neutral Milk Hotel; Devotchka; Bonnie 'Prince' Billy; Phosphorescent; Wilco; Miles Anthony Benjamin Robinson; Elliott Smith; Tom Petty; Bruce Springsteen; Neil Young; Bob Dylan; Mark Eitzel; American Music Club; Sparklehorse; The Mountain Goats; The Low Anthem; Two Gallants; Great Lake Swimmers; Iron & Wine; Sun Kil Moon; The Felice Brothers; Fanfarlo; The Weakerthans; Midlake; Maritime; My Morning Jacket; Giant Sand; Howe Gelb; Neko Case; Rilo Kiley; Beulah; Rogue Wave; Spoon; M. Ward; Songs:Ohia; Broken Records; Wolf Parade; The Wrens; The Walkmen; Damien Jurado; Shout Out Louds; Lana Del Rey; Sufjan Stevens; Brian Eno
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