Kaitlyn Aurelia Smith - Let's turn it into sound
Ghostly / Cargo
VÖ: 26.08.2022
Unsere Bewertung: 7/10
Eure Ø-Bewertung: 4/10
Wenn Worte keine Sprache wären
Ohne Worte tiefsitzende menschliche Wahrheiten ans Licht zu befördern, beherrscht kaum ein Genre so gut wie der Ambient. Nicht erst seitdem Leyland Kirby alias The Caretaker die sechs Phasen der Demenz auf erschütternde Weise vertonte, wissen wir um dessen immense Ausdruckskraft, aller Schubladisierungen als Hintergrund- oder Umgebungsmusik zum Trotz. Wenn Kaitlyn Aurelia Smith also ihr neues Album "Let's turn it into sound" nennt und als Konzept erklärt, abstrakte, unsagbare Emotionen in Klang verwandeln zu wollen, ergibt das Sinn – doch die tatsächliche Umsetzung lässt einen erst einmal irritiert zurück. Zwar waren die Werke der amerikanischen Produzentin stets etwas beweglicher und verspielter, als es das Ambient-Label suggerieren würde, doch schien die Frau, die auf einen 60 Jahre alten Buchla-Synthie baut, von New-Age-Pionierin Suzanne Ciani geschult wurde und mit der Meditations-App "Calm" kooperierte, auf der Landkarte elektronischer Musik klar eingeordnet. Ihre achte Solo-LP stellt diese Lokalisierung nun nicht nur in Frage, sie zerreißt den ganzen Atlas. Smiths Idee sprachloser Artikulation klingt mal nach Art-Pop, mal nach Dancefloor, mal nach Videospiel-Arkade und oft nach allem zusammen – ein akustisches Chaos, in dem sich scheinbar disparate Versatzstücke zusammenfügen, ohne dass es sich wie ein Gewaltakt anfühlt.
So beginnt der Opener "Have you felt lately?", als hätte man ein Mentos in eine 8-Bit-Colaflasche geworfen, ehe sich Smith eine völlig erratische Gesangsmelodie zusammenknotet. Nach kurzem Innehalten folgen Breakcore-Gezappel, zehn Sekunden Holzbläser-Drones und entspannt treibendes Auslaufen durch den Klostergarten. Die sakralen Chöre begleiten auch "Locate", das seinem mehr als nur angeschickerten Beat ein ebenfalls nicht mehr ganz nüchternes Saxofon zur Seite stellt. Es ist ein bisschen ironisch, dass ausgerechnet "Let's turn it into sound" die Stimme seiner Erschafferin so sehr in den Fokus rückt wie kein voriges Werk – doch wird schnell ersichtlich, dass die Vocals schlicht als weitere Klangträger fungieren und oft sowieso bis zur Unverständlichkeit manipuliert auftreten. In an Holly Herndons KI-unterstütztes Meisterwerk "Proto" erinnernder Manier schwirren sie durch die Voliere von "Let it fall", bis einem schwindlig wird. In "There is something" bieten die Gesangsspuren stattdessen einen souligen Ankerpunkt, bevor der Track sein Sortiment locker verschraubter IDM-Grooves präsentiert. Die Bedeutung all dieser Richtungswechsel, abrupter Schnitte und unmenschlich wirkender Menschenlaute erschließt sich Dir nicht? "Check your translation."
Zugegebenermaßen braucht man durchaus ein gewisses Avantgarde-Vokabular, um Smith durch ihr sich ständig wandelndes Labyrinth folgen zu können – auch wenn sich manche Momente erstaunlich zugänglich gestalten. "Is it me or is it you?" etwa, das mit Synth-Arpeggios und zuckenden Snares startet, wieder kurz in der mit Bläsern und wortlosen Vocals gepflasterten Wartehalle Platz nimmt und schließlich alle sphärischen und kinetischen Elemente in einen lässigen Techno-Beat überführt. Oder natürlich "Unbraid: The merge", der "Hit" der Platte und ihr bester Shot auf ungebrochene Club-Euphorie, auch wenn es dafür erneut etwas dissonanten Anlauf benötigt. Rücksichtsvollerweise schafft die aus Orcas Island stammende Frau mit "Then the wind came", den zirkelnden Fanfaren von "Pivot signal" und dem sanften Rausschmeißer-Bächlein "Give to the water" ein paar minimalistische Ruhepole, die ihren früheren Ambient-Kompositionen die Hand reichen. In den zum Album gehörigen Visuals bewegt sich Smith als 3D-Avatar durch hyperreale Neon-Welten, doch hat man beim tatsächlichen Hören nie das Gefühl, sie würde irgendetwas verstecken. Eine überreizte, aus allen Konventionen heraus drängende Kakophonie ist vielleicht auch einfach der ehrlichste Sound eines Menschen im 21. Jahrhundert.
Highlights
- Is it me or is it you?
- Unbraid: The merge
- There is something
Tracklist
- Have you felt lately?
- Locate
- Let it fall
- Is it me or is it you?
- Check your translation
- Pivot signal
- Unbraid: The merge
- Then the wind came
- There is something
- Give to the water
Gesamtspielzeit: 40:28 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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smrr Postings: 434 Registriert seit 02.09.2019 |
2022-09-09 18:06:39 Uhr
Ears | 2016 | 7.5/10The Kid | The Kid | 7.5 The Mosaic of Transformation | 2020 | 6.5 I Could Be Your Dog / I Could Be Your Moon | 2022 | 7.0 Let's Turn It Into Sound | 6.0 |
smrr Postings: 434 Registriert seit 02.09.2019 |
2022-09-09 18:04:45 Uhr
Ich find's auch etwas bemüht. Hatte ja schon viele gute Momente auf wirklich tollen Alben, die eine Brücke zwischen Early Electronic Synthie und Gegenwart geschlagen haben ("Ears" / "The Kid"), aber das hier holt mich leider gar nicht ab. Finde das Album sogar merklich schwächer als "Could Be Your Dog / I Could Be Your Moon", das bereits in diesem Jahr erschienen ist. Da hingegen sind wirklich tolle Momentaufnahmen drauf. Interessante Melodieführungen. Nicht ganz so überladen, aber irgendwie dennoch präsenter. |
myx Postings: 5092 Registriert seit 16.10.2016 |
2022-09-05 23:22:49 Uhr
Schön, mal wieder solche Klangexperimente zu bekommen, entstaubt die Gehörgänge. Klingt vom Konzept her aber doch noch etwas spannender als in der Umsetzung, so mein erster Eindruck. |
Armin Plattentests.de-Chef Postings: 27175 Registriert seit 08.01.2012 |
2022-09-05 20:56:13 Uhr - Newsbeitrag
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Referenzen
Anna Meredith; Laurel Halo; Holly Herndon; Beatrice Dillon; Mira Calix; Aphex Twin; Autechre; Oneothrix Point Never; Mouse On Mars; Four Tet; The Soft Pink Truth; Actress; Mount Kimbie; Matmos; Flying Lotus; Björk; Julia Holter; Yellow Magic Orchestra; Sparks; Animal Collective; Dirty Projectors; Dan Deacon; Gold Panda; Julianna Barwick; Mary Lattimore; Claire Rousay; Suzanne Ciani; Wendy Carlos; Steve Roach; Klaus Schulze; Terry Riley; Steve Reich; Philip Glass; Brian Eno; Charles Ives
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