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Jochen Distelmeyer - Gefühlte Wahrheiten

Jochen Distelmeyer- Gefühlte Wahrheiten

Four / Sony
VÖ: 01.07.2022

Unsere Bewertung: 7/10

Eure Ø-Bewertung: 5/10

Der Faden der Ariadne

An Jochen Distelmeyer scheiden sich die Geister. Das taten sie schon immer. Und die Gründe dafür liegen auf der Hand: Sein Gesangsvortrag lässt sich mit "eigen" ganz gut umschreiben, seine Lyrics gehen dahin, wo es auch mal wehtut und auch seine Bühnenpräsenz wirkt mitunter ganz schön entrückt. All dies wurde schon zu Blumfeld-Zeiten moniert und es hat sich auch nun, 15 Jahre nach der offiziellen Auflösung der Hamburger-Schule-Ikonen, wenig bis nichts daran geändert. Distelmeyers Soloplatten wurden heiß diskutiert, egal ob "Heavy" aus dem Jahr 2009 oder das versatile Cover-Album "Songs from the bottom Vol. 1", das sieben Jahre später erschien. Auch sein Romandebüt "Otis" stieß nicht nur auf Gegenliebe. Wer also solchermaßen polarisiert, dem kann man eines ganz sicher nicht vorwerfen: dass er sich bequem macht. Das tut Jochen Distelmeyer auch auf "Gefühlte Wahrheiten" ganz bestimmt nicht: Erstmals schrieb er englischsprachige Songs und mischt sie nun mit deutschsprachigen, was gewissermaßen zu einem ziemlichen Bruch innerhalb der Platte führt. Doch dazu später mehr.

Das Album startet mit dem mantraartigen "Komm (so nah wie Du kannst)", das schon fast hypnotische Züge annimmt. Die Soul-Nummer wirkt wie eine Beschwörungsformel, sie pulsiert sachte, während Distelmeyers Stimme im Zentrum der Aufmerksamkeit steht und später von einem Frauenchor unterstützt wird. "Zurück zu mir" gerät dagegen etwas poppiger und formuliert den subjektiven Wunsch, wieder mehr auf sich selbst zu achten, zu sich selbst zu finden, raus aus dem Strudel aus Süchten und Ablenkungen: Distelmeyer formuliert gar das Ende einer Odyssee, was natürlich interessant und in gewisser Weise selbstreferenziell ist, weil schon sein vom Feuilleton zu Unrecht verrissener Roman mit Homers bekanntestem Werk geflirtet hat. Dazu gibt es zurückhaltende Streicher, ein tippelndes Klavier und, nanu, wieder einen Frauenchor, der im Call-and-Response-Prinzip direkt mit dem lyrischen Ich in Kontakt tritt. All das macht Laune, wirkt frisch und schlüssig komponiert und ist vom ewigen Swen Meyer überdies auf den Punkt produziert. Auch "Im Fieber" kommt beschwingt aus den Startlöchern und steht einem radiotauglichen Pop-Hit so nahe wie nichts anderes auf dieser Reise. Inhaltlich verzehrt sich Distelmeyer einmal mehr nach einer anderen Person, die im Hier und Jetzt gerade mal nicht da ist. Was sich alsbald als Leitmotiv für die Platte erweisen soll und somit wie der Ariadnefaden wirkt, der uns durch dieses nicht gerade knappe Album begleitet.

Doch plötzlich und aus unerklärlichen Gründen folgt der Bruch: Es wird anglophil! Nicht nur sprachlich wirken die drei englischen Songs jedoch wie Fremdkörper auf "Gefühlte Wahrheiten". Inhaltlich bespielen sie zweifelsfrei die gleichen Themen, es geht ums Verlassenwerden, ums Alleinesein und um die Sehnsucht, die sich daraus ergibt. Doch der Sound ist ein anderer, ähnlich warm zwar, aber dennoch anders gelagert. Wo die übrigen Songs mit Versatzstücken aus Soul, R'n'B und Sophisti-Pop arbeiten, versprühen "Gone girl", "The reason" und "Roads of regret" eher countryeskes, folkiges Flair und stehen damit zutiefst in der Tradition amerikanischer Singer-Songwriter. Für sich genommen funktionieren die Stücke, doch die Stimmung, der Charakter, ist ein gänzlich anderer als beim Gros des restlichen Albums. So wird der hervorragende Flow, den "Gefühlte Wahrheiten" bis dahin auszeichnet, jäh abgrebremst. Vielleicht wären diese Songs also besser auf einer separaten EP aufgehoben gewesen. Vielleicht soll das aber auch alles so sein. Denn was wäre eine Odyssee ohne Umwege und Abwege? Richtig: ein lauer, langweiliger Spaziergang.

(Kevin Holtmann)

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Highlights

  • Komm (so nah wie Du kannst)
  • Zurück zu mir
  • Im Fieber
  • Ich sing für Dich

Tracklist

  1. Komm (so nah wie Du kannst)
  2. Zurück zu mir
  3. Hey dear
  4. Im Fieber
  5. Tanz mit mir
  6. Nur der Mond
  7. Gone girl
  8. The reason
  9. Roads of regret
  10. Manchmal
  11. Nicht einsam
  12. Ich sing für Dich

Gesamtspielzeit: 68:30 min.

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(Neueste fünf Beiträge)
User Beitrag

Earl Grey

Postings: 450

Registriert seit 14.06.2013

2023-03-11 23:53:49 Uhr
-Komm- hört sich an, als hätten Massive Attack 1998 bei Blumfeld angefragt. Aber der Song ging über die schlechte ISDN Leitung verloren und hat es somit nicht auf eine B-Seite geschafft…

heidl

Postings: 46

Registriert seit 17.06.2013

2022-10-30 22:05:11 Uhr
Na ins negative. Eintragung ins Nichts ist vom Text her schon ein bissl ein Downer ;)

nörtz

User und News-Scout

Postings: 12097

Registriert seit 13.06.2013

2022-10-30 16:44:00 Uhr
Anders als Glücklich haben sie übrigens spontan ausgelassen, nachdem nach Eintragung ins Nichts die Stimmung zu kippen schien...

Wohin drohte sie denn, zu kippen?

heidl

Postings: 46

Registriert seit 17.06.2013

2022-10-26 11:06:08 Uhr
Letzten Montag in der ARGEkultur in Salzburg dabei. Ich war etwas enttäuscht, wie spärlich der ohnehin schon kleine Saal besucht war. Aber da spielen wahrscheinlich Corona und die aktuelle Teuerung mit rein. Das Konzert war bestuhlt und Jochen hat das gleich zu Beginn in seiner gewohnt charismatischen Art adressiert: "Wir haben den Schwierigkeitsgrad erhöht und den Saal bestuhlen lassen". Seine Bühnenpräsenz ist immer noch die alte und seinem Aufruf, aufzustehen und mitzutanzen, sind der Großteil der Anwesenden nachgekommen. Er wechselte regelmäßig durch seine 4 akkustischen Gitarren und musste oft umstimmen, wobei er die Stille oft mit ein paar netten Sprüchen zu überbrücken versuchte.

Von den Blumfeldsongs wurde gefühlt Wir Sind Frei am meisten bejubelt. Davon abgesehen hatte er noch Graue Wolken, Eintragung ins Nichts, Tics und als Zugabe "den härtesten Song, den wir bisher geschrieben haben" mit im Gepäck, den Apfelmann. Außerdem spielten sie ein neues Stück namens Kismet, das sich unbemerkt in die vielen Midtempo Songs des neuen Albums einreihen ließe.
Ein Fan hat lauthals Verstärker gefordert, woraufhin Jochen sich lachend an die Stirn tippte und meinte "Akustisch, ja ne!" :)

Gefühlt hat er mir ein bisschen zu viel über die Liebe und zu wenig über politische oder gesellschaftskritische Themen gesungen, aber irgendwie auch verständlich. Man(n) wird älter, weiser und ruhiger. Die Liebe als Thema ist halt doch (zu Recht) universell und zeitlos. Und mit "Nur der Mond" hatte er auch einen der allerschönsten Vertretern dieses Genres mit im Gepäck.

Anders als Glücklich haben sie übrigens spontan ausgelassen, nachdem nach Eintragung ins Nichts die Stimmung zu kippen schien und sie kurzerhand Wir sind Frei nachschoben.

Alles in allem ein schönens Konzert, das uns glücklich und dankbar, endlich wiedermal Live Musik hören und spüren zu dürfen, nach Hause entlies.

Immermusik

Postings: 290

Registriert seit 04.11.2021

2022-10-03 19:06:44 Uhr
Man hört und liest nur gute Konzertreviews. Er läßt die ersten 3 Blumfeld Alben komplett aus. Scheinbar läuft alles unter dem Motto „Lass und Liebe sein.“
Ich sehe ihn beim hervorragend besetzten Hanse Song Festival.
https://www.rollingstone.de/kritik-jochen-distelmeyer-in-berlin-stoppt-mich-falls-ihr-das-schon-mal-gehoert-habt-2498209/
Zum kompletten Thread

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