Angel Olsen - Big time

Jagjaguwar / Cargo
VÖ: 03.06.2022
Unsere Bewertung: 8/10
Eure Ø-Bewertung: 8/10

Die Sonne im Whisky-Glas
"Jetzt mal ganz ruhig": So überschrieb Kollegin Depner ihre Rezension zu "Whole new mess", und man möchte Angel Olsen diesen Ratschlag tatsächlich mal ans Herz legen. Die Diskografie der US-Amerikanerin ist schließlich von einem rastlosen Bewegungsdrang geprägt. Man betrachte allein die jüngsten Veröffentlichungen: Erst überraschte "All mirrors"mit Spiegelsaal-Synths und Art-Pop-Opulenz, dann folgte der U-Turn per reduzierten Neu-Versionen jener Platte und im Anschluss eine EP von Achtziger-Covern, unter anderem mit – of all songs – Men Without Hats' "The safety dance". Um auch "Big time" wieder von allen Vorwürfen des Stillstands freizusprechen, reichen im Grunde bereits die ersten zwei Singles: Sowohl "All the good times" als auch der Titeltrack spannen mit Slide-Gitarren und klimpernden Tasten luftige Arrangements auf, welche die Schwere und Unnahbarkeit des Vorgängers verschwinden lassen. Man fühlt sich wie in einer Roadhouse-Matinee, die Band wirft sich beim Spielen freudige Blicke zu, und trotz der leidenden Geschichten der Frau in der Mitte erfüllt den ganzen Raum eine heilsame Wärme, die nicht nur von der durchs Fenster scheinenden Missouri-Sonne ausgeht. Ja, es ist wahr: Angel Olsen hat ein Country-Album gemacht.
Und was für eins. Die Neuausrichtung mag manche gerümpfte Indie-Nase verärgern, doch tatsächlich findet Olsen in der transparenten Emotionalität des Genres das perfekte Ventil, um ihren konträren Gefühlstumulten Sinn zu verleihen. Im Vorfeld von "Big time" outete sie sich öffentlich und privat als queer, doch nachdem sie ihren Eltern die befreiende Nachricht verkündete, starben beide in kurzen Abständen zueinander. Pures Glück und tiefste Trauer prägen die Platte und konzentrieren sich vor allem in zwei polaren Schlüsselstücken. Besagter Titelsong ist eines davon, ein gemeinsam mit dem geliebten Menschen geschriebenes Liebeslied, das jeden Eiswürfel im Whisky-Cola-Glas umgehend zum Schmelzen bringt. Seinen Gegenpart bildet "This is how it works". Die längsten Tracks sind bei Olsen ja oft auch die besten, und da macht dieser Sechsminüter keine Ausnahme, auch wenn er bedeutend reduzierter daherkommt als etwa ein "Lark". Die 35-Jährige singt von der Hilflosigkeit im Angesicht des Todes, ehe Pedal Steel, Piano und Cembalo ihre wortlosen, aber ungemein ausdrucksstarken Schluss-Seufzer formen. Unsterblich schön.
Als Umrahmung für dieses Highlight wählt Olsen zwei weitere, die das enge Americana-Korsett am ambitioniertesten aufreißen. "Right now" täuscht akustische Leisetreterei an, um seinen Worten am Ende mit Bläsern, knirschenden Elektrischen und wuchtigen Drums den Nachdruck einer Gerölllawine zu verleihen. "Go home" bringt mit auffallend exaltierten Vocals die Lust an der Dramatik zurück und deutet sogar einen kleinen Orchester-Sturm an – der einzige Song, der auch reibungslos auf "All mirrors" gepasst hätte. Und doch ähnelt "Big time" seinem kühl-distanzierten Vorgänger in gewisser Weise auch. Erneut zeigt sich Olsen als Künstlerin, die konsequent eine Vision durchsetzt und dabei keine Angst hat, ihre Fans vor Herausforderungen zu stellen. Das bezieht sich nicht nur aufs uncoole C-Genre, auch Liebhaber*innen des gepflegten Pacings bekommen ein paar Steine an den Kopf geworfen: Immerhin besteht der Großteil des Albums aus Balladen, die sich gerade in der ersten Hälfte anstauen.
Ein Problem ist das freilich nicht, da auch die ruhigeren Stücke allesamt ihre eigene Kontur aufweisen und "right in the feels" treffen, wie der Roadhouse-Besitzer vielleicht sagen würde. Dazu tragen nicht zuletzt die mit Co-Produzent Jonathan Wilson erarbeiteten Arrangements bei, die etwa das fragile "All the flowers" oder das von Piano-Heimsuchungen durchzogene "Ghost on" schweben lassen. Wenn "Through the fires" und "Chasing the sun" schließlich Sternenschauer von Classic-Hollywood-Streichern auffahren und damit jede Ecke der Western-Kulisse zum Funkeln bringen, weiß man, dass Angel Olsen es mal wieder geschafft hat. Die Frau mit den vielen Gesichtern brilliert unter jedem einzelnen, beherrscht intime Lagerfeuer-Geständnisse ebenso meisterhaft wie rauschende Epen und nun auch das amerikanischste aller Kulturgüter. Tammy prostet, die hutlosen Männer tanzen, und Olsen hat ihre Koffer für den nächsten Richtungswechsel wahrscheinlich schon längst gepackt.
Highlights
- Big time
- Right now
- This is how it works
- Go home
Tracklist
- All the good times
- Big time
- Dream thing
- Ghost on
- All the flowers
- Right now
- This is how it works
- Go home
- Through the fires
- Chasing the sun
Gesamtspielzeit: 46:54 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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hesmovedon Postings: 68 Registriert seit 20.10.2019 |
2022-06-12 12:51:30 Uhr
Mehr Folk, weniger Pop. Es ist teilweise eine musikalische Rückkehr zu ihren ersten beiden Alben, die ich liebe. Big Time kommt da nicht ganz heran. Aber man kann ihr einfach nicht böse sein, allein ihre Stimme ist schon so wunderbar. |
boneless Postings: 4245 Registriert seit 13.05.2014 |
2022-06-08 22:11:22 Uhr
Bin leider auch etwas unterwältigt. Aber ich muss mal betonen, wie gelungen ich die Übeschrift "Die Sonne im Whisky-Glas" finde. :) |
Zappyesque Postings: 761 Registriert seit 22.01.2014 |
2022-06-08 18:50:22 Uhr
May your kindness remain natürlich… |
Zappyesque Postings: 761 Registriert seit 22.01.2014 |
2022-06-08 18:48:40 Uhr
Finde das Album sehr angenehm. Kein großer, Wurf, dafür ist das songwriting dann doch einfach zu simpel, etwas unoriginell. Die Arrangements sind aber sehr schön, ihre Stimme kommt toll zur Geltung und manche Nummern funktionieren gerade so gut weil sie so grundsätzlich wie möglich gehalten werden. Geschnörkel findet man hier nicht, komplett abgespeckt. Klar, ein bisschen mehr up-beat wäre schön, aber auch in dieser Hinsicht empfinde ich ihre Kompromisslosigkeit als sehr stimmig und eindrucksvoll. Passt sehr gut in den Kanon mit Courtney Marie andrews‘ „may your kindness remain the same“. Mal schauen wie es mit der Langzeitwirkung ist… |
Sick Postings: 216 Registriert seit 14.06.2013 |
2022-06-08 18:39:24 Uhr
Irgendwie genauso öde wie die neue Wilco. Ist wohl zur Zeit nicht meine Musik...War mal anders. |
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Referenzen
Sharon Van Etten; Lucinda Williams; Tammy Wynette; Patsy Cline; Emmylou Harris; Lee Hazlewood; Joni Mitchell; Neko Case; Big Thief; Waxahatchee; Laura Marling; Land Of Talk; Cat Power; Kevin Morby; Bonnie 'Prince' Billy; Bill Callahan; Iron & Wine; Damien Jurado; Fleet Foxes; The Weather Station; Vashti Bunyan; Jessica Pratt; Florist; Marlon Williams; Roy Orbison; Father John Misty; Phoebe Bridgers; Lucy Dacus; Julie Byrne; Haley Heynderickx; Weyes Blood; Feist; Jessica Lea Mayfield; Craig Finn; PJ Harvey
Surftipps
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- https://www.cargo-records.de/de/item/60984/artist/olsen_ange l/artist_details.76.html
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- https://www.allmusic.com/artist/angel-olsen-mn0002693655
- https://www.laut.de/Angel-Olsen
- https://pitchfork.com/artists/29064-angel-olsen/
- https://musicbrainz.org/artist/185527bf-c293-4c24-8213-ed98f b8976be
- https://rateyourmusic.com/artist/angel-olsen
- https://genius.com/artists/Angel-olsen
- https://www.songkick.com/artists/732074-angel-olsen
- https://www.theguardian.com/music/2022/may/26/losing-my-pare nts-made-me-at-ease-with-talking-about-love-angel-olsen-on-c oming-out-and-being-her-true-self
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