Kelly Lee Owens - LP.8
Smalltown Supersound / Cargo
VÖ: 29.04.2022
Unsere Bewertung: 7/10
Eure Ø-Bewertung: 5/10
Don't forget to breathe
Dass Künstler*innen ihrer Zeit voraus sein sollen, ist ein mal mehr, mal weniger passender Lobspruch der Musikkritik. Bei Kelly Lee Owens lässt sich dieser Allgemeinplatz jedoch wörtlich verstehen. Ihr drittes Album heißt "LP.8" und hebt sich so extrem von seinem Vorgänger ab, dass sie es tatsächlich aus einer sechs Platten entfernten Zukunft zu uns gebeamt haben könnte. Die Verschmelzung von experimentellem Techno und zugänglichem Ambient-Pop jenes "Inner song" brachte der Waliserin Anerkennung auch außerhalb ihrer Subkultur und verschaffte ihr sogar die Ehre, den Titelsong für die Frauenfußball-WM 2023 beizusteuern. Doch von einer gewissen Pandemie ausgebremst, zweigte ihr Kreativfluss in eine andere Richtung ab. Owens verzog sich nach Oslo, um dort mit Noise-Produzent Lasse Marhaug zu arbeiten, der bereits mit Sunn O))) oder Merzbow Decken krachend zum Einsturz brachte. Ihre gemeinsame Vision: ein Hybrid aus Enya und Throbbing Gristle, der per freiförmigen New-Age-Flächen und ins Fleisch bohrendem Industrial die Brücke zum Mainstream wieder sprengen sollte. In diesem Sinne reflektiert "LP.8" alle seine Produktionsumstände: Es strahlt vor einer abstrakt-kalten Schönheit wie die norwegischen Landschaften, ist in seinem hypnotischen Minimalismus hörbar aus der Isolation geboren und dabei so herausfordernd und abrasiv wie das aktuelle Konvolut globaler Krisen.
"Move body", fordert der Opener "Release" bedrohlich flüsternd, auch wenn Tanzversuche zu dieser monoton zischenden und hämmernden Beat-Maschine wie hyperaktive Fabrikarbeit aussehen dürften. Wenn Owens dann noch endlose Wiederholungen des Titels darauf schichtet, wird der Song endgültig zur Anti-Atemübung, die in kehlenzuschnürenden fünf Minuten ihr Erlösungsversprechen nicht einhält. Das etwas luftigere "Voice" übernimmt den Staffelstab, lockert den Griff mit seinen psychedelischen Vocal-Heimsuchungen und dem tief in die Eingeweide schneidenden Bass jedoch nur marginal. Diese brutale Seite seiner Medaille zeigt das Album erst wieder im Schlussdrittel. Mit seinem Gerede von inneren Energien und offenen Kanälen wirkt "Quickening" auf dem Papier wie eine Meditationsanleitung, klingt mit Horror-Drones und beunruhigenden Glocken aber eher wie die Dämonenbeschwörung aus einem bösen Buch in einem Sam-Raimi-Film. Der Closer "Sonic 8" wird im Gegensatz dazu ganz unmissverständlich weltlich. "This is an emergency / This is a wake-up call", erklärt Owens nüchtern über einem Alarmton aus der Hölle, auslegbar als Verweis auf den Klimawandel oder jedes andere gesamtirdische Leid, das trotz nachgewiesener Dringlichkeit vielen Menschen noch am Allerwertesten vorbeigeht.
Zum wohlklingenden Ausgleich lebt "LP.8" zwischen Anfang und Ende den Enya-Teil seines Konzepts aus, bleibt dabei aber gleichermaßen unkonventionell. "Anadlu" ist gewissermaßen das Gegenstück zu "Release": Auf Walisisch gibt die 33-Jährige hier tatsächliche Atemanweisungen über einer acht-minütigen Synth-Wiese, deren erderschütternder Kickdrum-Puls einer Massage gleichkommt. In "S.O (2)" und "Olga" erinnert uns Owens an ihre heilsame Singstimme, auch wenn diese an Björk-Balladen angelehnten Stücke in ihrer statischen Schwebe keine Hooks zulassen. Solche braucht's aber auch gar nicht, wie vor allem "Nana piano" beweist: eine wunderschöne Improvisation auf dem verstimmten Piano der Oma mit Vogelzwitschern und wortloser Familienliebe, die nach jeder angeschlagenen Taste im Raum vibriert. Zerstörung und Zärtlichkeit, Panik und Entspannung existieren auf "LP.8" im Einklang und werden zur radikalen Identitätsstiftung einer eigenständigen Künstlerin. Oder, wie es "One", der poppigste Track einer maximal unpoppigen Platte poetisch pointiert: "You are the world you create."
Highlights
- Anadlu
- Nana piano
- Sonic 8
Tracklist
- Release
- Voice
- Anadlu
- S.O (2)
- Olga
- Nana piano
- Quickening
- One
- Sonic 8
Gesamtspielzeit: 42:15 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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saihttam Postings: 2459 Registriert seit 15.06.2013 |
2022-12-21 15:59:53 Uhr
Mir fehlt verglichen zu den Vorgängern leider auch ein bisschen was. Es gibt schon wieder intensive Passagen, aber das meiste rauscht einfach so vorbei. Klar, der Sound gefällt weiterhin, aber es fehlt einfach die Spannung in den Songs. |
humbert humbert Postings: 2442 Registriert seit 13.06.2013 |
2022-12-21 15:28:19 Uhr
Ich mag das Album auch sehr gern. Vielleicht nicht so stark wie die beiden Vorgänger, aber sie hat einfach einen Sound der mir unglaublich gefällt. |
smrr Postings: 434 Registriert seit 02.09.2019 |
2022-05-26 21:23:43 Uhr
Kaum Reibungspunkte, irgendwie ein bisschen zu wenig los hier auf dieser Platte. Alles nett, verhuscht, aber letztlich erreicht sie mich nicht. Kaum herzergreifende Melodien, keine Ausbrüche, keine lyncheske Spannung. Das ist wie auf graue Felder gucken. "Olga" und "Sonic8" für mich ein bisschen herausstechend.Gleiches könnte ich übrigens über die neue Platte des von mir sonst geschätzte Romance (zusammen mit Dean Hurley) sagen. Die ist auch wohlig egal. |
Armin Plattentests.de-Chef Postings: 27184 Registriert seit 08.01.2012 |
2022-05-26 20:43:21 Uhr - Newsbeitrag
Frisch rezensiert.Meinungen? |
MM13 Postings: 2412 Registriert seit 13.06.2013 |
2022-04-29 19:38:38 Uhr
ist schon ziemlich hypnotisch,sphärisch,langweilig find ichs jetzt nicht, geht einen anderen weg als die vorgänger. |
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Referenzen
Tirzah; Pan Daijing; Holly Herndon; Jenny Hval; Björk; Katie Gately; Laurel Halo; Kate NV; Penelope Trappes; Kaitlyn Aurelia Smith; Eartheater; Whatever The Weather; Jefre Cantu-Ledesma; AGF; Coil; Julia Holter; Lost Girls; The Knife; FKA Twigs; Grimes; Sevdaliza; Jon Hopkins; Daniel Avery; Marie Davidson; Kedr Livanskiy; Aphex Twin; Nicolas Jaar; Actress; Mouse On Mars; Throbbing Gristle; Front Line Assembly; Enya; Anohni; Brian Eno; Harold Budd
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