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Joe Rainey - Niineta

Joe Rainey- Niineta

37D03D / Cargo
VÖ: 20.05.2022

Unsere Bewertung: 8/10

Eure Ø-Bewertung: 5/10

Tradition 2.0

Als Will Smith bei den Oscars Chris Rock eine schallende Ohrfeige verpasste, sorgte das tage-, wenn nicht sogar wochenlang für einen Skandal. In Kommentaren war zu lesen, dass solch eine offene Art der Gewalt in der langen Geschichte der Academy Awards nie stattgefunden hätte und es der wohl unrühmlichste Moment in der Historie der Verleihung gewesen sein musste. Zum Glück wiesen in der Folge einige Personen auf die Award Show von 1973 hin. In eben jenem Jahr gab nämlich Marlon Brando seine Redezeit in Folge seiner (abgelehnten) Auszeichnung als Bester Schauspieler bereitwillig an die indigene Aktivistin Sacheen Littlefeather ab, die während ihrer kurzen Rede nicht nur ausgebuht und im Nachgang verhöhnt wurde – mehrere Personen schilderten danach auch, dass John Wayne von sechs Securities aufgehalten werden musste, um Littlefeather nicht gewaltsam von der Bühne zu befördern. Wie weit es um die kollektive Erinnerungskultur bestellt ist, ließ sich daran gut erkennen. Auch heute noch sind die Stimmen indigener Menschen in Kunst und Kultur meist eine Randerscheinung.

Dabei zeigen mittlerweile viele Künstler*innen, wie progressiv mit dem eigenen kulturellen Erbe umgegangen wird. Einer von ihnen ist Joe Rainey, der sein Debütalbum "Niineta" auf dem Label von Justin Vernon, Aaron & Bryce Dessner veröffentlicht. Zuvor hatte er mit seiner jahrelangen Erfahrung im Pow-Wow-Gesang unter anderem schon Parts zu Chance The Rappers "The big day" und Bon Ivers "i,i" beigetragen. Pow-Wows sind vereinfacht gesagt stammesübergreifende soziale Zusammenkünfte, bei denen unter anderem die indigenen Gesänge und Tänze zelebriert werden, während Drums einen durchgängigen, aber immer wieder nuancierten Rhythmus vorgeben. Für seine moderne Weiterführung dieser Tradition hat Rainey die gebräuchlichen Drums allerdings gegen die synthetischen Loops von Produzent Andrew Broder getauscht, mit dem er das Album erdacht hat.

Der 34-Jährige legt seine Vocals dabei über eine faszinierend vielseitige Stimmungspalette. In "Easy on the cide" ist alles so stoisch, dass der Sound fast an Industrial erinnert und mit bedrohlichen Synthies scheint sich alles zu verdunkeln, bevor der warme Gesang zusammen mit einem Klavier die düsteren Wolken wegschiebt. In "Bezhigo" wiederum singt Rainey eher kehlig und die Synth-Streicher übernehmen die Auflockerung – ein bisschen klingt das nach Bon Ivers verschachtelten Experimenten. Die Single "No chants" ist mit ihren 808s am ehesten das 2022er-Update eines Kampftanzes, eines essenziellen Bestandteils der Pow-Wows. Und das elfminütige "Phil’s offering" schielt mal kurz in Richtung Techno und Trance, bevor es sich mit dem Äquivalent eines digitalen Lagerfeuerknisterns verabschiedet.

Zusammengehalten wird das alles vom hypnotischen, manchmal Trance-artigen Gesang seines Hauptprotagonisten. Der weiß die Ojibwe-Sprache, die im Norden der USA und in Kanada von ungefähr 80.000 Menschen gesprochen wird, als Werkzeug einzusetzen, um unterschiedlichste Gefühle zu transportieren. Man muss das gar nicht zwangsläufig verstehen können, um es zu lieben. Ganz ähnlich der eigentlich ganz unähnlichen Tanya Tagaq mit ihrer zeitgenössischen Interpretation des Kehlkopfgesangs der Inuit über elektronische Arrangements, entwickelt sich hier etwas Neues, etwas Großartiges, das Sprache transzendiert. Im leisesten Moment auf "Niineta", dem sanften "Ch. 1222", ist Rainey fast für sich. Nur alle zehn Sekunden gibt es mal einen Tastenanschlag auf dem Klavier, während ein Bass dem Stück hintergründig einen Herzschlag verleiht. Dann hat man ein bisschen Angst, dass dieser Herzschlag verstummen könnte. Zum Glück sagt der Sänger selbst über seinen Umgang mit dem kollektiven Erbe: "We're still here. We were here before you were, and we never left." Gerade weil die Stimmen indigener Menschen in Kunst und Kultur meist eine Randerscheinung sind, sollte man sich dieses Debüt unbedingt anhören.

(Arne Lehrke)

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Highlights

  • Bezhigo
  • No chants
  • Ch. 1222

Tracklist

  1. Jammer from the slammer
  2. B.E. son
  3. Easy on the cide
  4. Bezhigo
  5. No chants
  6. Can key
  7. Jr. flip
  8. Turned engine (feat. Allie Bearhead)
  9. Ch. 1222
  10. Phil’s offering

Gesamtspielzeit: 45:46 min.

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Armin

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2022-05-19 21:44:31 Uhr - Newsbeitrag
Frisch rezensiert.

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