Noth - Die Wahrheit über Arndt

Backseat
VÖ: 13.05.2022
Unsere Bewertung: 7/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10

Powerpoint-Perforation
Wie viel Romantik steckt in einem LinkedIn-Profil? Wenn es nach den beiden Singer-Songwritern Luis Schwamm und Linus Kleinlosen geht, auf jeden Fall mehr, als man erwartet. Der Protagonist ihres gemeinsamen Projektes "Die Wahrheit über Arndt" trifft nämlich auf einer Berufsmesse seinen Schwarm, googlet sie im Nachhinein und findet ein Karriereprofil, das lediglich ein Foto enthält. Vermutlich starrt er das freischwebende Profilbild eine Weile an, bis er in die Realität von Business Relations zurückgeholt wird. Das ist nur eine Situation, die den Bürohengst Arndt zum Menschen werden lässt, den Noth – wie die Band von Schwamm und Kleinlosen heißt – auf ihrem Konzeptalbum intim porträtieren.
Enddreißiger Arndt ist in seinem Start-Up nämlich nicht besonders zufrieden. Im Privatleben und bei der Arbeit versucht er, sich abzulenken oder verliert sich in Tagträumen. Auch das sind natürlich nur minimale Trostspender, sie kompensieren kaum das Wälzen von Excel-Tabellen. Was sich im ersten Moment wie eine Alman-Version von Mike Skinners "A grand don't come for free" liest, ist eine feinfühlige Geschichte von den unsichtbaren Mühlen, die einen im Kern wohl ganz anständigen Menschen in eine Identitätskrise ziehen und dann langsam zermahlen. Das ist mal ein Klischee, wenn im After-Work-Modus "'ne gut gekühlte Brause" zusammen getrunken wird ("Nur zu"), aber an anderer Stelle zynischer Kommentar, wenn Arndt widerwillig Zahlen für die Bilanzen fälscht.
Musikalisch bewegen sich die beiden Musiker, die sich bei einer Songwriting Masterclass kennengelernt haben, irgendwo zwischen Folk- und Jazz-Elementen. Neben Gesang und Gitarre ist mit freundlicher Mithilfe von Gastmusiker*innen eine Fülle von Instrumenten zu hören, die eine Wärme ausstrahlen, die in den Arbeitswaben der Co-Working-Spaces sonst selten einen Platz findet. Saxophon, Synthesizer oder auch ein breites Summen bringen eine Melancholie mit rein, die einmal mehr etwas vermenschlicht, das man sonst nur als seelenlose Stereotypen im Kopf hat.
Während unter anderem auch per Erzählerstimme Arndts Geschichte vorangetrieben wird, manifestiert sich bei ihm die Wut in "Geburtstag". An seinem Ehrentag kommt dann nämlich doch niemand zu Besuch, er sprüht sich auf der Couch allein Sahne in den Mund und steuert auf den seelischen Abgrund zu: "Ich sitz aufm Mofa und peitsche heulend durch Nordfriesland." Etwas später kommt in "In der Luft" mit Tinitus in die Ohren die bittere Erkenntnis: "Wohin ich auch laufe, ich laufe doch immer davon."
Noths Interpretation ist dabei nicht so überschwänglich und ironisch wie das inhaltlich artverwandte "Office politics" von The Divine Comedy. Die Pointe kommt auf "Die Wahrheit über Arndt" so filigran und unerbittlich wie die nächste Steuererklärung und soll an dieser Stelle nicht verraten werden. Nach gut 35 Minuten hat man viel Verständnis für Arndt und würde vielleicht sogar seine Mittagspause mit ihm verbringen. Auf jeden Fall würde man sich mit ihm bei LinkedIn verknüpfen. Einer zum Verlieben ist Arndt am Ende vielleicht nicht, aber das Subjekt einer spannenden Charakterstudie zwischen Aktenstapeln und Buchhaltungsprogrammen.
Highlights
- Nur zu
- Anita
- Waldbad
Tracklist
- Zoo
- Nur zu
- Anita
- Mucksmäuschenstill
- Sichere Seite
- Steuerpionier
- Geburtstag
- Fucking Vorurteile
- In der Luf
- Waldbad
Gesamtspielzeit: 35:31 min.
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