Evergrey - A heartless portrait (The Orphean testament)
Napalm / Universal
VÖ: 20.05.2022
Unsere Bewertung: 7/10
Eure Ø-Bewertung: 6/10
Eine Frage der Zeit
Wollte man den gängigen Klischees über Progressive Metal Glauben schenken, so wären Evergrey eines sicherlich nicht: progressiv. Keine hirnverknotenden Polyrhythmen, keine Frickeleien, bei denen sich normalsterbliche Musiker nur deshalb nicht die Finger brechen, weil zuvor die Gitarre ein hitziges Ende im Kamin gefunden hätte. Und doch sind die Schweden anders. Eben nicht verspielt, sondern tiefer, auf Atmosphäre bedacht. Was meistens dann auffällt, wenn es eben nicht auffällt, beispielsweise dann, wenn man trotz eingeschlägiger Erfahrung aus zwölf vorherigen Studioalben wieder einmal den Fehler macht, ein neues Album der Band mit vielleicht doch nur 95 Prozent Aufmerksamkeit zu hören. Und den ersten Höreindruck von "A heartless portrait (The Orphean testament)" konsequenterweise mit einem dezent derangierten "Hä?" zusammenfassen muss. Wie gesagt: Man sollte es eigentlich besser wissen.
Also nochmal. Und etwas mehr Aufmerksamkeit bitte, ja? Denn "Save us" beginnt mit einem Monster von Riff, wird dann vom gewohnt melancholisch-schwebenden Gesang von Frontmann Tom Englund davongetragen und kulminiert letztlich in einem machtvollen Refrain. Dessen vermeintliche Gangshouts nicht etwa aus der Sample-Konserve stammen, sondern aus Einzelbeiträgen von Hunderten von Fans zusammenmontiert wurden. Gleiches gilt für die beeindruckenen Ohoho-Chöre zu Beginn von "Midwinter calls", die nicht nur zum Pomp dieser zweiten Vorabsingle beitragen, sondern auch ein Gefühl davon vermitteln, wie es sein könnte, wenn die Skandinavier endlich wieder einmal eine Bühne betreten.
"Ominous" hingegen ist so ein wunderbarer Song, der genau durch seine Überraschungsarmut erst recht überzeugt. Man weiß, was kommt, wenn Englund die ersten Textzeilen ins Mikro leidet, man ahnt, dass irgendwo ein großartiges Solo lauert, um die aufgestauten Emotionen herausschreien zu können – und doch fühlt es sich unverbraucht wie bei der ersten Platte an. Dass die Schweden auch ganz anders können, zeigt hingegen der Titeltrack, der ruppig wie selten seine Breitwandriffs herausfeuert und dennoch das Wechselspiel aus Härte und Emotion meisterhaft beherrscht – nur um im Anschluss bei "Reawakening" das Pendel in die andere Richtung ausschlagen zu lassen, wenn das große Drama einmal in den Hintergrund treten kann und die Melancholie einer geradezu positiven Aufbruchsstimmung weicht.
Diese songübergreifenden Stimmungsänderungen und der wechselseitige Aufbau verlangen wohl am meisten Aufmerksamkeit, auch wenn dies vermeintlich modernen Hörgewohnheiten widersprechen mag. Doch die überbordende Härte von "Blindfolded" funktioniert nun einmal genau deshalb so gut, weil dahinter mit dem Abschluss "Wildfires" eine so wunderbare Ballade die Spannung auflösen kann. Vielschichtigkeit funktioniert eben nicht nur dadurch, dass man möglichst viele Stilelemente in einen Song packt oder mit jeder Note seine musikalische Brillanz unter Beweis stellen will. Vielschichtigkeit kann auch auf anderen Ebenen stattfinden, um im Wortsinn zu bleiben. Bei Evergrey bedeutet das, die Dramaturgie eines Albums verstanden zu haben, die Hörer tief zu bewegen, so sie sich auf eine solche Platte einlassen. Das ist anstrengend, ja. Aber die dafür aufgebrachte Zeit ist der Respekt für die Künstler. Und Evergrey spielen in dieser Hinsicht in einer ganz eigenen Liga.
Highlights
- Ominous
- The Orphean testament
- Wildfires
Tracklist
- Save us
- Midwinter calls
- Ominous
- Call out the dark
- The Orphean testament
- Reawakening
- The great unwashed
- Heartless
- Blindfolded
- Wildfires
Gesamtspielzeit: 50:15 min.
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