Fontaines D.C. - Skinty fia
Partisan / PIAS / Rough Trade
VÖ: 22.04.2022
Unsere Bewertung: 8/10
Eure Ø-Bewertung: 9/10
Sog aus der Tiefe
"Geh Deinen Weg", "Mach Dein Ding", "#diy", blablabla. Hier in der Timeline, dort im Date-Profile. So weit, so gähn. Wenn jedoch der stoische Basslauf einsetzt und kurz darauf ein sakral anmutender Chor, zieht es einen wie in Hypnose hinein in den Opener "In ár gCroíthe go deo". Es nickt der Kopf, es wippt das Bein, während Sänger Grian Chatten gebetsmühlenartig "Gone is the day / Gone is the night" statiert. Man ist mittendrin in "Skinty fia" und voll und ganz bei Fontaines D.C.: Monoton wie der pandemische Alltag, beinah beschwörend und schaurig wie die weltpolitische Lage wabert der Opener über knapp sechs Minuten auf denselben Zeilen und Motiven, während die Iren die Intensität nach und nach steigern. Eine sich klammheimlich einfräsende Gitarrenwand, zupackende Drums. Noch immer flehende Chöre. Und offene Münder.
Fontaines D.C., diese noch immer recht junge Band, weitete ihren Blick schlagartig, musste ihn jedoch genau so plötzlich wieder verengen. 2018 emporgeschossen aus der Dubliner Indie-Szene, vom Geheimtipp zum internationalen Szene-Act. Etliche Single-Hits, das Debüt "Dogrel" mitreißend – stilistisch aber noch zwischen den Stühlen. Trotz Hype, Tourleben und Rock'n'Roll-Lifestyle wurde es auf "A hero's death" düsterer, zurückgenommener. Mehr Post-Punk, weniger konventionell, hin zur Band-DNA. Dann alles auf Null: Zu viel Virus, viel zu viel Einsamkeit. Aber auch neue Musik. Und was für welche! "Skinty fia", übersetzt in etwa "Verdammnis des Hirsches", rutscht Menschen in Irland unter Umständen aus dem Mund, wenn sie in der Kneipe mit der Faust auf den Tisch schlagen. Inhaltlich geht es auf Album Nummer drei, der Titel deutet es an, weiterhin ums Irischsein, um gesellschaftliche Gepflogenheiten, um Zwischenmenschliches. Beobachtet aus einer analytischen Position, in tiefer Verbundenheit zu Land und Leuten. Musikalisch stapft das Werk den Pfad der Dunkelheit nicht nur fester in den Boden, nein, es führt ihn mit Rückgrat, Präzision und Atmosphäre fort.
Markante Bassläufe spenden Puls, setzen den Rhythmus, der Raum wird mit Electronica oder mal mit zarten Bläsern gefüllt. Mittendrin fräsen oder drücken Gitarren und manchmal, wie im wunderbar melancholischen "Roman holiday", begleiten sie auch eher. Diese Mixtur bildet das Fundament des Albums. Aus der Tiefe heraus schafft erneut Chattens Stimme von Gleichgültigkeit bis zu nachdrücklicher Penetranz eine spezielle Anziehungskraft zwischen Band und Publikum – er singt auch besser als bisher. "Big shot" besitzt die Frechheit, bloß ein Gitarrenriff abzufeiern. Doch wer kann, der kann. Und so gipfelt diese Taktik in "Bloomsday", das fest auf einem E-Gitarren-Muster gesattelt in die Dunkelheit reitet. Entkommen? Unmöglich. Hits? Gibt es überall und nirgends. In diese Kategorie fällt das vorab ausgekoppelte "Jackie down the line" am ehesten. Abhängig macht auf "Skinty fia" jedoch fast alles. Und Abhängigkeit ist besonders surreal und real zugleich, wenn Gewohnheiten und Zwischenmenschliches im grauen Trott verschmelzen: "They sit in their room / They all consume / They fall in their bed / They shouldn’t have said", bringen Fontaines D.C. es in "How cold love is" auf den Punkt.
Erneut staunt man über Talent und Konstanz dieser Band, die natürlich ihre Einflüsse, ihre wohlbekannten Vorbilder hat – sich aber innerhalb der engmaschigen Genres New Wave und Post-Punk viel frische Luft verschafft. Und doch scheint es, als stimmte der fein tarierte Albumfluss bloß ein auf das epische, wuchtige Doppel gegen Ende: Das grandiose "I love you" haut in seinem Gänsehautfinale mit "I loved ye like a penny loves the pocket of a priest" nicht nur eine nachhallende Zeile raus. Der Track ist zart und intensiv zugleich, spielt mit Laut und Leise wie eine menschliche Beziehung zwischen den Polen bedingungsloser Zuneigung und skupelloser Verletzlichkeit. Damit dies seelisch zu stemmen ist, hat vorab der nicht minder fesselnde, in Strobo funkelnde Titeltrack das Feld bereitet: ein nachhaltiges Brodeln inmitten einer hypnotisch-pulsierenden Klanglandschaft. Doch darüber zu schreiben, wie man Musik fühlt, bleibt weiterhin irgendwo auch Blablabla.
Highlights
- In ár gCroíthe go deo
- How cold love is
- Skinty fia
- I love you
Tracklist
- In ár gCroíthe go deo
- Big shot
- How cold love is
- Jackie down the line
- Bloomsday
- Roman holiday
- The couple across the way
- Skinty fia
- I love you
- Nabokov
Gesamtspielzeit: 44:59 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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Hierkannmanparken Postings: 1492 Registriert seit 22.10.2021 |
2024-08-27 13:52:51 Uhr
Der Opener ist für mich ein Highlight, aber besser finde ich noch den Closer, besonders ab dem Punkt wo dieser Backgroundgesang einsetzt, Wahnsinn. |
Huhn vom Hof Postings: 6978 Registriert seit 14.06.2013 |
2024-06-19 15:29:06 Uhr
Der Opener ist so fantastisch. Freue mich schon auf das kommende vierte Album. |
Cellardoor Postings: 117 Registriert seit 20.04.2024 |
2024-05-13 14:27:30 Uhr
Sehe ich auch so |
kingsuede Postings: 4365 Registriert seit 15.05.2013 |
2024-05-13 14:19:51 Uhr
Für mich knapp vor A Hero‘s Death und dem Debüt. |
VelvetCell Postings: 7532 Registriert seit 14.06.2013 |
2024-02-07 15:23:41 Uhr
Das One-Cover ist wirklich sehr gelungen. Schön! |
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Referenzen
Protomartyr; Joy Divison; Motorama; The KVB; Obits; The Men; Shame; Parquet Courts; Off!; The Jam; Circle Jerks; Interpol; Preoccupations; INVSN; New Order; The Smiths; Slaves; The Icarus Line; Ought; The Cure; No Age; Blur; Damon Albarn; Pavement; Idles; Sleaford Mods; Art Brut; Iceage; The Clash; The Streets; The Xx; Jamie T; Ty Segall; Ty Segall Band; The Stooges; Iggy Pop; The Strokes; Built To Spill; Sonic Youth; Editors; Bloc Party; Buzzcocks; Ramones; We Are Scientists; Arctic Monkeys; Kaiser Chiefs; Oasis; The Beatles
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