Archive - Call to arms & angels

Dangervisit / PIAS / Rough Trade
VÖ: 29.04.2022
Unsere Bewertung: 7/10
Eure Ø-Bewertung: 8/10

Eisige Freiheit
Im März 2022 erlangte der erste Teil des Titels "Call to arms & angels" beklemmende Aktualität: Darius Keeler und Pollard Berrier traten neben Franz Ferdinand oder The Pretenders bei der "Night for Ukraine" im Londoner Roundhouse auf und spielten das dem Anlass angemessene "Bullets". 52.000 Pfund kamen bei dem Charity-Event zusammen – eine Zahl, die in Minuten etwa der Laufzeit des zwölften Archive-Longplayers entspricht. Okay, das war jetzt ein klein wenig übertrieben. Trotzdem: Wenn die Briten ein Doppelalbum ankündigen, lassen sie sich nicht lumpen. Und rechnen in weit über eineinhalb Stunden mit allem Scheiß ab, der seit "The false foundation" über die Welt hereingebrochen ist: Polizeigewalt und Rassismus in den USA, globale Kriegstreiberei, COVID-19. Genug rechtschaffen hässlicher Stoff für eine faustdicke Dystopie – wenn es nur eine wäre.
Liest sich grob nach "Axiom" – nur dass die Realität die Geschehnisse rund um eine fremdgesteuerte Menschheit längt eingeholt hat. Oder nach "Controlling crowds" – nur dass Massenüberwachung nach NSA- und Facebook-Skandalen fast schon ein alter Hut ist und Keeler und sein Kollege Danny Griffiths die Rap-Parts mittlerweile in ihr HipHop-lastiges Nebenprojekt Giant ausgelagert haben. Auch die programmierte Kühle, die noch "The false foundation" auszeichnete, weicht zumindest teilweise einem deutlich organischeren Sound – was bemerkenswert ist, wenn man berücksichtigt, dass "Call to arms & angels" vor allem Verunsicherung, Angst und Zimmerpanik verhandelt, die sich während des Lockdowns zuweilen frostig aufs Gemüt legten. Die gute Nachricht: Bereits Holly Martins Stimme bringt so einiges zum Schmelzen.
Auch wenn die Bilder, die sich bei den von ihr gesungenen Stücken aufdrängen, alles andere als schön sind. Der Vorab-Track "Shouting within" tröpfelt dank verhuschtem Piano malerisch, erzählt aber von einer seelischen Isolation, die sich kaum Bahn zu brechen vermag. "Surrounded by ghosts" mahnt eingangs: "There's a war still raging / Battle cry ain't fading." Im Hinblick auf das Entstehungsdatum schwerlich ein Bezug zum bei Veröffentlichung von "Call to arms & angels" unvermindert tobenden Krieg in der Ukraine – vielmehr ein universelles Klagelied über die Gräuel, die Menschen einander anzutun fähig sind. Und gefällt sich Berrier beim verschwenderischen Art-Rocker "Freedom" in der Rolle des skrupellosen Raubtierkapitalisten, stellt Martin im folgenden Klavierpart bitter fest: "Freedom fills the graves / Freedom tastes like dirt." Ein Sarg mit doppeltem Boden.
Und wo könnte man Verschwendung besser praktizieren als in über 100 Minuten Musik? Da sind sie also wieder, die sich hochschaukelnden Longtracks, die imposante Wolkenkratzer aus progressiven und synthetischen Stimmungen errichten und wegen denen manche Fans Archive-Platten überhaupt erst kaufen. Der erste heißt "Daytime coma" und führt in einer Viertelstunde von waidwundem Intro über stacheligen Elektro-Rock in ein tosendes Gitarren-Finale – nicht so kunstvoll verschlungen wie das unfassbare "Lights", dennoch nicht weniger als ein Monument. Auch "Enemy" beginnt betont defensiv, nervt dann jedoch mit Vocal-Shots und dunklen Flächen im Stil des "Axiom"-Highlights "Baptism", Dave Pen sprechsingt sich in Rage, und zum Schluss fliegt einem der angestochene Track förmlich um die Ohren. Fantastisch – und keine Sekunde zu lang.
Doch Archive können sich genauso gut kurz fassen. Zum Beispiel im unruhigen Groover "Fear there and everywhere", wo die nach vorne gemischten Gesangssätze wirken wie banges Pfeifen im Dunkeln, oder beim pulsierenden "Numbers", in dem Martin ihrem Gegenüber Unhöflichkeiten vor die Füße spuckt – inhaltlich nahe an "Fuck U", musikalisch ähnlich fiebrig wie "Kid corner". Im hochfahrenden Refrain von "Every single day" treffen sich gar Muse und Queen zum Kaffeekränzchen mit Arsen und hören alte Beatles-Platten – so wunderbar drüber, dass es kaum stört, wenn der zweite Tonträger dem bärenstarken ersten wenig Neues hinzufügt. Abgesehen von "Frying paint", in dessen Intro Tauben gurren, und "We are the same", das die Keyboards wie Eisschollen gegeneinander verschiebt. Ein warmes Gefühl ums Herz bleibt irgendwie trotzdem. Bei aller Dystopie.
Highlights
- Fear there and everywhere
- Daytime coma
- Enemy
- Freedom
- We are the same
Tracklist
- CD 1
- Surrounded by ghosts
- Mr Daisy
- Fear there and everywhere
- Numbers
- Shouting within
- Daytime coma
- Head heavy
- Enemy
- Every single day
- CD 2
- Freedom
- All that I have
- Frying paint
- We are the same
- Alive
- Everything's alright
- The crown
- Gold
Gesamtspielzeit: 103:48 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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Hoschi Postings: 1019 Registriert seit 16.01.2017 |
2022-06-02 16:56:42 Uhr
Was fast noch schlimmer als CD2 ist, ist die Zusatz-cd Super8. der Dokumentation des aktuellen Albums. Da kommt kein Song über die 4/ 10 raus. Ganz Übel. |
Speedy Postings: 121 Registriert seit 10.02.2021 |
2022-06-02 14:49:33 Uhr
Bis zum "goldenen" Abschluss (ist tatsächlich noch einer der wenigen Lichtblicke auf CD2) sind wohl die meisten Hörer schon eingeschlafen. |
BadaBing Postings: 113 Registriert seit 27.06.2013 |
2022-06-02 13:26:59 Uhr
Mich wundert, dass der Schlusstrack "Gold" hier noch gar nicht positiv erwähnt wurde. Für mich ein richtig feiner Abschluss, der wie vielen anderen Archive-Songs von der sich langsam aufbauenden Soundlandschaft profitiert. Kickt bei mir jedes einzelne mal. |
peter73 Postings: 962 Registriert seit 14.09.2020 |
2022-05-24 09:41:32 Uhr
simpler trick: wenn ich nicht einschlafen kann - insert disc2. disc1 hat ein paar schöne momente/songs -"daytime coma" ist dann für mich das highlight, finde ich auch nicht zu lange... |
Hoschi Postings: 1019 Registriert seit 16.01.2017 |
2022-05-23 08:32:47 Uhr
Gestern auf einem Nachtpaziergang erst wieder angehört:Numbers ist ein absolutes Brett und der mit Abstand beste Archive Song seit langem. Auch Daytime Coma ist klasse, wenn es auch das letzte Drittel nicht gebraucht hätte bzw. man es hätte deutlich kürzer gestalten können. Aber nach wie vor ist alles ab Freedom so unglaublich belanglos. |
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Referenzen
BirdPen; We Are Bodies; AaRON; Portishead; Massive Attack; Davidge; Unkle; Evangelist; Soulsavers; Hælos; Lamb; London Grammar; Goldfrapp; Flunk; Zero 7; Death In Vegas; Richard Fearless; Trentemøller; Saltillo; Recoil; Nine Inch Nails; How To Destroy Angels; Tweaker; Humanist; † † † (Crosses); Team Sleep; DJ Shadow; Giant; Tricky; Arms And Sleepers; Kruder & Dorfmeister; Tosca; Tanga; Atoms For Peace; Thom Yorke; Radiohead; The Smile; Ultraísta; Blackfield; Steven Wilson; No-Man; Lunatic Soul; TesseracT; Daniel Tompkins; White Moth Black Butterfly; Nosound; Dredg; North Atlantic Oscillation; Pure Reason Revolution; Pink Floyd; The Beatles; Muse; Anathema; Gazpacho; Queen
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