Die Andere Seite - Epithymia
Virgin / Universal
VÖ: 22.04.2022
Unsere Bewertung: 6/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
Richtig dark
Seinen echten Namen wolle er nicht mehr auf Tour-Postern sehen, sagt Schauspiel-Darling Tom Schilling. Man kann ihn verstehen. Hatte der 40-Jährige seinen musikalischen Ambitionen bislang mit ebendiesem und tatkräftiger Unterstützung von The Jazz Kids gefrönt, setzt Die Andere Seite wieder alles auf Anfang: "Epithymia" ist das zweite Album des Kollektivs, aber unter neuem Namen praktisch ein zweites Debüt. Und wenn man allein die Intensität dieser zehn Songs betrachtet, macht der Wechsel zu einer eher anonymen Bezeichnung Sinn: Eigentlich fehlen nur noch NDH-Riffs und "Das Lied vom Ich" könnte sich beinahe "Mein Herz brennt" schimpfen. Todesromantische Schwülstigkeit hat Schilling sich nunmehr angeeignet, er folgt einer klaren Vision: Jazz ist anders, jetzt wird es dark. Richtig dark. Dabei ist das Eröffnungsstück programmatisch zu verstehen, denn "Epithymia" ist etwa keine Orchideengattung, sondern der aus der griechischen Mythologie entlehnte Begriff für unerfüllbare Sehnsucht, die eigentlich nur durch den Tod gestillt werden kann und zum Einstieg schon in aller Breite ausgekostet wird. Man folgt dem Künstler tief in seine Psyche hinein, auf eigene Gefahr: Möglicherweise gibt es keinen Weg mehr hinaus.
Die Band ist zwar weitestgehend dieselbe geblieben, anstatt einer fröhlichen Reise durch das Inventar der Musikschule wird nun aber an einem psychotischen Rock-Sound gearbeitet, der auch gerne mal düsteren Fuzz beschwört und nicht selten an Kollegen wie Die Nerven erinnert. Die fiese Gitarre von "Ins Nichts" tut beinahe körperlich weh, während Schilling vom grandiosen Scheitern singt, aber der Drive ist hervorragend. Demgegenüber stehen Orgel-Chansons wie "Als wär's das letzte Mal" oder lockere Folk-Fingerübungen wie die, nun ja, klassische Ballade "Aljoscha": Erzählt wird hier die melodramatische Geschichte eines suizidalen Nicht-Wunschkindes, wobei Text und beschwingte Instrumentierung zwei Seiten der gleichen Medaille ergeben. "Die Königin" groovt dagegen post-punkig und äußerst stilsicher auf das klassische Ende einer Tragödie zu: "Lass mich sterben, bevor Du mich verlässt."
"Auf den Dächern der Stadt ist der Tod Begleiter im Rausch": Auch "Bitter & süß" setzt auf tiefschwarze Romantik, aber je nach Gusto womöglich zu viel, also bloß bitter. Wo zum Beispiel Isolation Berlin die Querverweise in Richtung selbstverstümmelnder Betroffenheitslyrik und Melodramatik meistens ironisch brechen beziehungsweise ihrem versoffenen Indie-Charme unterordnen, meint Schilling seine Prosa todernst – im wahrsten Sinne des Wortes. Nachdem man "Gera" gehört hat, möchte da nun wirklich niemand mehr hinziehen. Und spätestens, wenn es heißt: "Schatten verblassen im Schleier der Nacht", wird analog zum Hauptberuf des Frontmanns klar: Leicht verdauliche Kost, mit der sich eine breite Masse identifizieren kann, soll hier nicht geschaffen werden. Hätte Richard Wagner E-Gitarre spielen können, vielleicht wäre "Epithymia" dabei entstanden.
Es gelingt Die Andere Seite leider nicht immer, furiose Spannungsbögen wie in "Heller Schein" oder dem hochmelodischen und in der Mitte mit trauernder Klarinette auftrumpfenden "Die Weide" zu kreieren, sodass die zenterschweren Lyrics manchmal ein wenig in der Luft hängen, anstatt von mitreißenden Kompositionen aufgefangen zu werden. Und auch der theatralische, bisweilen martialische Vortrag Schillings auf noch immer jungenhafter Stimme hat seine Tücken. Schon bevor sich die "Ballade vom Eisenofen", welche die Gebrüder Grimm zitiert, aber irgendwie nach Nachkriegszeit klingt, in aufbrausenden Post-Rock verabschiedet und zu Moll-Piano ausklingt, ist man ausgelaugt und platt. "Epithymia" ist ein schwerer Brocken, dabei aber auch konsequent zu Ende gedacht. Wer sich mit den Texten schwertut, kann sich noch immer an der wunderbar aufspielenden Begleitband erfreuen. Dann halt demnächst auf dem Wave-Gotik-Treffen statt beim Bambi.
Highlights
- Aljoscha
- Die Weide
- Ins Nichts
Tracklist
- Das Lied vom Ich
- Aljoscha
- Bitter & süß
- Heller Schein
- Die Weide
- Gera
- Die Königin
- Ins Nichts
- Als wär's das letzte Mal
- Ballade vom Eisenofen
Gesamtspielzeit: 41:11 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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VELVET UNDERGROUND Postings: 124 Registriert seit 13.06.2013 |
2022-04-23 16:08:36 Uhr
STRIKE DEAR MISTRESS ... and hit him hard !!! |
Armin Plattentests.de-Chef Postings: 27357 Registriert seit 08.01.2012 |
2022-04-13 20:36:42 Uhr - Newsbeitrag
Frisch rezensiert.Meinungen? |
Autotomate Postings: 6174 Registriert seit 25.10.2014 |
2022-04-04 09:35:24 Uhr
Vermutlich letzter Vorabtrack: Die Königin |
Autotomate Postings: 6174 Registriert seit 25.10.2014 |
2022-03-09 10:29:35 Uhr
Neue Single: Heller Schein |
Autotomate Postings: 6174 Registriert seit 25.10.2014 |
2022-01-26 16:32:36 Uhr
Als push die Trackliste:01. Das Lied vom Ich 02. Aljoscha 03. Bitter & Süß 04. Heller Schein 05. Die Weide 06. Gera 07. Die Königin 08. Ins Nichts 09. Als wärs das letzte Mal 10. Ballade vom Eisenofen |
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Referenzen
Tom Schilling & The Jazz Kids; Isolation Berlin; Gisbert zu Knyphausen & Kai Schumacher; Element Of Crime; Blumfeld; Tocotronic; Die Nerven; Nick Cave & The Bad Seeds; Dagobert; Faber; Tristan Brusch; Messer; Jungstötter; Die Heiterkeit; Jens Friebe; Niels Frevert; Rio Reiser; Ton Steine Scherben; Einstürzende Neubauten; Klez.e; Die Höchste Eisenbahn; Die Sterne; The Düsseldorf Düsterboys; Erdmöbel; International Music; PeterLicht; Rammstein; Eric Fish; Lacrimosa; Laibach; Ja, Panik; All Diese Gewalt; Karies; Swutscher; Die Arbeit; Fuzzman; Tom Liwa; Navel; Vierkanttretlager; Trümmer; Scott Walker; Jacques Brel; Serge Gainsbourg; Leonard Cohen; Bob Dylan; The Velvet Underground; Herbert Grönemeyer
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- Die Andere Seite - Epithymia (6 Beiträge / Letzter am 23.04.2022 - 16:08 Uhr)