Ian Noe - River fools & mountain saints
Thirty Tigers / Membran
VÖ: 25.03.2022
Unsere Bewertung: 8/10
Eure Ø-Bewertung: 8/10
Aus der Zeit gefallen
War da was? Ist das nicht ...? Ein fragender Gedanke, der einen irgendwann beim Hören von "River fools & mountain saints" ganz zwangsläufig kommt. Vielleicht schon zu Anfang, wenn "Pine grove (madhouse)" den Country-Rock umarmt, um dann gemeinsam in die Nacht taumeln. Oder wenn "Lonesome as it gets" der Einsamkeit und dem Verlust mit selbstironischem Fatalismus entgegentritt, bis am Ende sogar der Christbaum in Flammen steht. Spätestens aber mit "Ballad of a retired man", das in episch-Springsteen'scher Manier den Traumata eines geschundenen Landes an der vernarbten Seele eines alten Mannes, mutmaßlich des eigenen Großvaters, nachfährt, fällt der Groschen: Das war alles schon mal da, die Geschichten und Typen, die Klänge und Melodien, nichts ist neu. Jeder Ton, jede Zeile atmet den Geist der Tradition, die Silhouetten der großen Ahnen, überall sind sie im Hintergrund zu erkennen. Der aus Beattyville, einer Kleinstadt im Westen von Kentucky, stammende Ian Noe ist beileibe keiner, der um jeden Preis Grenzen austestet und verkrampft innovativ sein möchte. Er ist aber auch keiner, der seelenlos Vorbilder kopiert oder Klischees auswalzt.
Schon Noes Debütalbum wies eine eigene Handschrift auf, die gleichsam vertraut wirkte. Mit "Letter to Madeline", der trotzigen Fabel eines Bankräubers, der im Angesicht des drohenden Endes seine letzten Worte an die Geliebte richtet, hatte "Between the country" zudem diesen einen Song, bei dem einfach alles stimmte. Und mit "Methhead" einen anderen, nicht weniger eindringlichen Song, der einen schonungslosen Blick auf das Elend warf. Geschichten von Außenseiten, von Männern und Frauen am Rande der Gesellschaft, von Indigenen und Veteranen, von den sogenannten einfachen Leuten und von denen, die Glück, Liebe und Hoffnung verlassen haben, bilden auch das narrative Fundament von "River fools & mountain saints". Und doch spielen die Menschen nicht die alleinige Hauptrolle, geraten mithin sogar zu Statisten vor dem eindrucksvollen Panorama des ländlichen Kentucky. Noe besingt die Berge der Appalachen, die kleinen Städte und die stillgelegten Minen, den scheinbar endlosen Regen, dräuende Naturkatastrophen und – immer wieder – die Straße, die weder Ausweg noch Sackgasse ist, sondern oft nur der Schauplatz unterschiedslos dahin fließender Tage. "But you know, this road's been a pretty good friend / I'vе drove it every night sincе then / I run her 'round every bend / Never sure if I'm awake", heißt es fast am Ende, kurz bevor "Road may flood" eine letzte Biegung zu Bonnie Tyler nimmt.
Trost und Verzweiflung liegen auf diesem Album wie im wahren Leben eng beieinander. Der titelgebende "River fool" ist ein bekannter Säufer, eine tragisch-traurige Gestalt, und doch "about as free as a man can be". Seine Geschichte erzählt Ian Noe mit sonorer Stimme und anrührender Zärtlichkeit, während die Gitarre von Banjo und Violine Gesellschaft erhält. "Dreamin' all by his lonesome / Content with his place in time / Just a river fool on good old mountain wine." Aber das ist nur eine Seite der Medaille. Was die vermeintliche Freiheit des Einen in letzter Konsequenz bedeutet, wird wenig später in "Mountain saint" formuliert, wenn nämlich seine hart arbeitende Frau auftritt, alleingelassen mit den Kindern, die es kaum über die Runden schafft – "Ain't no crown / For this country hustling queen." Auch hier verstellt das Mitgefühl nicht den klaren Blick darauf, wie die Verhältnisse beschaffen sind, in denen die Figuren ihr Dasein fristen, ohne wirkliche Wahl zu haben. Denn in gewisser Weise sind sie alle Gefangene, die nicht loskommen, gekettet an die Umstände und an das Land, verfolgt von den Dämonen der Vergangenheit – "Guess you could say it's been a haunted life", wie es an einer Stelle beinahe lapidar heißt.
Musikalisch bewegt sich "River fools & mountain saints" vor allem im Country-Folk und benachbarten Gefilden, der Einfachheit halber könnte man auch Americana sagen. Der an "Mountain saint" anschließende Song "One more night" ist wie auch das phänomenale "Appalachia haze" eher balladesk und reduziert gehalten, dazwischen gehen "POW blues" und "Burning down the prairie" mit ungeschliffen rumpelndem Blues-Rock auch mal in die Vollen. Und dann der Schluss: Unterlegt sind die finalen zwei Minuten, als eigentlich schon alles gesagt ist, mit süßlichen Streichern, was nicht einer gewissen Ironie entbehrt, und doch überaus passend ist. Es ist der Abspann eines Films, der das Zeug zum Klassiker hat. Oder längst ein Klassiker ist? "River fools & mountain saints" zeugt von einer beeindruckenden Souveränität im Songwriting wie in der Interpretation. Die Songs erscheinen mitunter wie alte Bekannte, so als hätte man sie schon dutzende Male gehört. Als hätte es sie immer schon gegeben. Nicht im Neuen liegt hier die große Kunst, sondern darin, wie sich Ian Noe in eine reiche Tradition scheinbar rückwirkend einzuschreiben vermag – entgegen den Gesetzen von Zeit und Kausalität.
Highlights
- Lonesome as it gets
- Ballad of a retired man
- Mountain saint
- Appalachia Haze
- Road may flood / It's a heartache
Tracklist
- Pine grove (madhouse)
- River fool
- Lonesome as it gets
- Strip job blues 1984
- Tom Barrett
- Ballad of a retired man
- Mountain saint
- One more night
- POW blues
- Burning down the prairie
- Appalachia haze
- Road may flood / It's a heartache
Gesamtspielzeit: 42:26 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
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captain kidd Postings: 3749 Registriert seit 13.06.2013 |
2022-04-08 09:05:41 Uhr
Ja, wirklich stark. Die Stimme macht es vor allem für mich... |
diggo Postings: 153 Registriert seit 02.09.2016 |
2022-03-31 06:55:53 Uhr
Starkes Album, wie auch bereits sein erstes Album „Between The Country“. Schön, dass er nun hier die Aufmerksamkeit erhält, die er verdient. |
Armin Plattentests.de-Chef Postings: 27819 Registriert seit 08.01.2012 |
2022-03-30 21:37:34 Uhr - Newsbeitrag
Frisch rezensiert.Meinungen? |
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- Ian Noe - River fools & mountain saints (3 Beiträge / Letzter am 08.04.2022 - 09:05 Uhr)