Aldous Harding - Warm Chris

4AD / Beggars / Indigo
VÖ: 25.03.2022
Unsere Bewertung: 7/10
Eure Ø-Bewertung: 9/10

Bierernst
"Todernst, todtraurig und zutiefst verbittert", sei Aldous Harding auf ihrem selbstbetitelten Debüt gewesen, wie Kollege Ginter damals feststellte. Zumindest erstgenanntes Attribut muss sich vor dem Hintergrund ihrer darauffolgenden Entwicklung hinterfragen lassen. Ob sie sich in surrealen Videos als Pilgerin oder Echsenfrau verkleidet, gestische und mimische Bühnen-Exorzismen betreibt oder in gefühlt jedem Song Akzent und Gesangsstil wechselt: Die Neuseeländerin bezeichnet sich selbst zu Recht als "song actor" und jede ihrer Performances ist eine Kostümparty. Ein rotes Tuch für all jene Authentizitätsforderer, die in der Musik stets die Persönlichkeit und Biografie des Menschen dahinter gespiegelt und den Teppich für die eigene Identifikationssucht ausgerollt sehen wollen. Harding stellt deren Kunstverständnis konstant in Frage, weil sie – wie so viele andere "song actors" vor ihr, seien es David Bowie, Nick Cave oder Kate Bush, – aufdeckt, dass der Widerspruch von Theater und aufrichtiger Emotion nur ein scheinbarer ist. "Warm Chris" zeigt wie alle Platten zuvor in erster Linie eine Frau, die vor den unkontrollierbaren (Miss-)Geschicken der Welt sowie ihrer eigenen Konfusion zu kollabieren droht und im Rollenspiel ihre intimste Ausdrucksform dafür findet.
Rückzug bleibt dabei eines der zentralen Themen der aus dem ländlichen Lyttelton stammenden Hannah Topp, die ihr Album zum dritten Mal in Folge gemeinsam mit Kreativpartner John Parish im gleichsam mythisch-grünen, aber wohl noch verschrobeneren Wales aufnahm. In "Tick tock", einem unwiderstehlichen Folk-Pop-Ohrwurm mit Jingle-tauglicher Melodie und kurzem Piano- und Flöten-Getorkel, träumen zwei Junkies von einem "office in the country". Die literaturverliebte Harding – schon ihr Künstlername verweist nicht nur auf Aldous Huxley, sondern soll ihr deshalb gefallen haben weil er wie eine "männliche Alice" klingt – konfrontiert ihre eigenen Romanfiguren noch immer mit großen existenzialistischen Sujets. Doch ihr Weltschmerz gestaltet sich, wie schon auf weiten Teilen von "Designer", weniger schwermütig, dafür humorvoller und lockerer als früher. Mit diffus nordisch anmutenden, breiten Vokalabholzungen gibt Harding der freiheitssuchenden Ehefrau von "Passion babe" Comedy-Potenzial, ohne sie lächerlich zu machen. In "Fever" scheint indes unter Stakkato-Groove und im Champagnerglas funkelnden Bläsern eine ganz und gar ungebrochene Romanze durchzuschimmern, doch die Motive bleiben stilisiert: die Gluthitze in der Stadt, die nächtliche Hotelrezeption, die alkoholgetränkte Erzählperspektive. "All my favourite places are bars."
Apropos Alk: Früher soll sich Harding an Abenden vor Konzerten ja immer besoffen haben, um mit echtem Kater ihr Elend noch glaubwürdiger auskotzen zu können. Astreines Method-Acting oder doch nur der Beweis dafür, dass Aldous nichts anderes als Hannahs Sprachrohr ist? Im freigeistigen "Lawn", das sich mit klapprigem Groove, verzerrter Elektrischer und Parishs Backing-Vocals zur kleinen Schwester des Über-Songs "The barrel" aufschwingt, liegt die Vorstellung auf jeden Fall nahe, dass Topp hier direkt zu uns spricht: "If you're not for me / Guess I am not for you." Für mehr Fragezeichen sorgt das Tasten-und-Banjo-Lamento "She'll be coming round the mountain", in dem die Sängerin vom Geist des noch quicklebendigen Neil Young besessen scheint. Und mit dem Geräusch, das Harding nach gut zwei Minuten im Samba-Streichler "Staring at the Henry Moore" von sich gibt, kann sie eigentlich nur eine der kuriosen Vogelarten ihres Heimatlands imitieren.
Musikalisch hat ihr in den Sechzigern und Siebzigern fußender Akustik-Pop trotz oberflächlicher Anschmiegsamkeit noch immer mehrere Schrauben locker, kommt aber etwas reduzierter und mit weniger auffälligen Reizpunkten als zuletzt daher. Dadurch packt "Warm Chris" einen nicht ganz so stark wie die vorhergegangenen Meisterwerke "Party" und "Designer" – das der Rezensent im Nachhinein ein bis zwei Punkte zu niedrig bewertet hat –, doch das Faszinosum dieses klanglichen Schauspiels bleibt unberührt. Dabei fesselt vielleicht nichts mehr als der völlig unwirkliche Closer "Leathery whip": ein einziges Orgel-Mantra, in dem Harding nicht nur mit ihrer eigenen Piepsstimme, sondern auch mit Sleaford Mods' Jason Williamson harmonisiert, wenn der als nicht wiederzuerkennender Südstaaten-Krächzer in den Maskenball einsteigt. Was das alles zu bedeuten hat, ist eine Frage, die man sich nicht stellen darf, weil sie einem sowieso niemand beantworten kann. Auch für Harding selbst ist das eigene Songwriting ein Mysterium, an das sie sich im Nachgang oft gar nicht mehr erinnert. Und das meint sie bei allem, was wir von ihr wissen oder zu wissen glauben, todernst.
Highlights
- Tick tock
- Lawn
- Leathery whip
Tracklist
- Ennui
- Tick tock
- Fever
- Warm Chris
- Lawn
- Passion babe
- She'll be coming round the mountain
- Staring at the Henry Moore
- Bubbles
- Leathery whip
Gesamtspielzeit: 39:21 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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AliBlaBla Postings: 7747 Registriert seit 28.06.2020 |
2023-06-21 18:38:04 Uhr
@UnangemeldeterDu, das ist sehr angebracht hier! Ja, tolle Interpretation, macht Lust auf a) das Nick Drake - Cover Album UND b) das PJ Harvey Album mit John Parish wieder, beides im schönen Monat Juli. |
Unangemeldeter Postings: 1626 Registriert seit 15.06.2014 |
2023-06-21 17:17:06 Uhr
Ich weiß nicht ob das hier schon an irgendeiner Stelle geteilt wurde, aber es gibt seit ein paar Wochen ein (sehr eigenständiges) Nick Drake-Cover von Aldous mit John Parish: Three Hours.Absoluter Banger, krautrockig-hypnotisch: https://www.youtube.com/watch?v=P1EuZcw05mU |
VelvetCell Postings: 7988 Registriert seit 14.06.2013 |
2023-04-02 23:14:36 Uhr
Auf jeden! |
MopedTobias (Marvin) Mitglied der Plattentests.de-Schlussredaktion Postings: 20166 Registriert seit 10.09.2013 |
2023-04-02 23:03:31 Uhr
"Lawn" ist zwar nicht ganz so gut wie "The barrel", wäre aber auch auf dem Vorgänger ein Highlight gewesen. |
VelvetCell Postings: 7988 Registriert seit 14.06.2013 |
2023-04-02 22:43:06 Uhr
Mit jedem Auflegen liebe ich Warm Chris mehr. Hat zwar nicht ganz die unschlagbaren Einzelsongs von Designer, ist dafür aber etwas konsistenter über die gesamte Laufzeit. Designer, so sehr ich das Album liebe, nimmt auf der B-Seite etwas zu sehr den Fuß vom Gaspedal. |
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Referenzen
PJ Harvey; Marlon Williams; Tom Waits; Nico; John Cale; Kevin Ayers; Vashti Bunyan; Linda Perhacs; Richard Dawson; Rustin Man; Jesca Hoop; This Is The Kit; Jessica Pratt; Joanna Newsom; Cate Le Bon; Gruff Rhys; Field Music; Francis Lung; Lou Reed; Patti Smith; Syd Barrett; David Bowie; Neil Young; John Parish; The Shangri-Las; Nadia Reid; Bedouine; Laura Marling; Weyes Blood; Cat Power; Bill Callahan; Bonnie 'Prince' Billy; Kevin Morby; Big Thief; Adrianne Lenker
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