Eddie Vedder - Earthling
Republic / Universal
VÖ: 18.02.2022
Unsere Bewertung: 6/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
Star mit Erdung
Eine besondere Qualität Eddie Vedders liegt darin, sich als einer der größten Rockstars seiner Generation genau diesem Label immer wieder entziehen zu können. So findet er seinen Platz in einer Genealogie, die einen Highway von den großen Vorbildern Neil Young und Tom Petty vorbei an kleinen Clubs und Motels bis zum nächsten Stadion baut. Gewaltige Arenen füllen zu können und dabei dennoch nie den Anschein des Ausverkaufs zu erwecken – ein Spagat, der nicht vielen gelingt und bei Vedder vielleicht auf die jahrelange Surf-Erfahrung zurückgeht. Auch sein politischer Aktivismus scheint seit jeher eher einer unverbrüchlichen Prinzipientreue zu entstammen und wenig mit der pflichtschuldigen Scheinheiligkeit mancher Kollegen ähnlichen Kalibers zu tun zu haben. "Earthling", sein erstes echtes Soloalbum seit zehn Jahren – den schönen Soundtrack zu "Flag day" von 2021 nicht mitgerechnet – trägt also in mancher Hinsicht einen klugen Titel für eine Songsammlung, die munter und geerdet durch die Welt hüpft, sich aber dennoch des längst erworbenen Legendenstatus bewusst ist. Ein Blick auf die Kollaborateure gefällig? Ringo Starr, Stevie Wonder, Elton John – Vedder scheut sich zu Recht nicht mehr, als weiser alter Mann der Popgeschichte aufzutreten.
Seine Stammband setzt auf "Earthling" ebenfalls auf Erfahrung. Neben Starproduzent Andrew Watt rekrutiert Vedder mit Chad Smith und Josh Klinghoffer seine Mitstreiter aus dem Dunstkreis von Red Hot Chili Peppers: zwei der Gründe, warum "Earthling" deutlich rockiger und variabler als die bisher eher lagerfeuerromantischen Soloausflüge Vedders gerät. Schon die Vorabsingles deuten einen Teil der Bandbreite an. Zwar stellt "Long way" mit seinen Slidegitarren-Echos und Americana-Melancholie noch eine recht milde Verbeugung vor Tom Petty dar, während "The haves" als zunächst angenehm dezente Ballade im Refrain vielleicht etwas zu viel Schmalz aufträgt. Doch spätestens "Brother the cloud" fügt Vedders reichem Backkatalog ein weiteres Highlight hinzu. Nirgendwo sonst klingt "Earthling" so sehr nach der Mutterband Pearl Jam, in der Riffstruktur verbergen sich gar leichte "Corduroy"-Reminiszenzen, bis Vedder die Intensität in einem fulminanten Outro steigert. "I search the sky for a glimpse of his blue eyes" – man kommt nicht umhin, diese Zeilen als Ode an den verlorenen Freund Chris Cornell zu lesen, mit dessen Tochter Lily übrigens Vedder einen herzergreifenden Podcast aufnahm. "What are friends for?", fragt Vedder zum Abschluss. Der Kloß im Hals ist spürbar.
Andere Songs entfernen sich weiter vom angestammten Terrain, wobei Vedders Vocals als unberechenbare Variable alles gegen den Strich bürsten. Im enthusiastischen Opener "Invincible" klingt seine hektische Phrasierung nach einer wilden Mischung aus Michael Stipe und – tatsächlich! – Herbert Grönemeyer. Etwas belangloser Pop-Rock aus dem Formatradio schleicht sich zwischendurch immer mal wieder ein, doch ab der Hälfte zieht "Earthling" deutlich an. Die im Titel angedeuteten ökologischen Themen werden prononcierter, wenn Vedder im punkigen "Good and evil" mit gestochen scharfen Bildern gegen die Eliten speit: "Oh, look at you dressed up as hunters / Like some fucked-up Halloween." "Rose of Jericho" singt ein Loblied auf die Widerständigkeit der Natur und lässt den besten Refrain des Albums folgen, eingängig und doch hintergründig. Dann stehen die Granden der Musikgeschichte für einen fröhlichen Reigen Spalier: Der klassische Rock'n'Roll von "Try" wird von Stevie Wonders entfesselter Harmonika umtanzt, auf "Mrs. Mills" trommelt Ringo Starr mit einer Selbstverständlichkeit, die sich vielleicht auch aus der melodischen Nähe zu manchen Paul-McCartney-Songs speist. Höfliche Streicher und eine schrullige Charakterstudie aus dem Rotlichtmilieu inklusive.
Etwas ratlos lässt "Pictures" zurück, das von Elton Johns charakteristischem Honky-Tonk-Klavier toll eingeleitet wird und sich danach zum waschechten Duett mit alternierenden Vocals auswächst. Als der zum Mitschunkeln animierende Refrain bisweilen bedrohlich nah am Gelände des ZDF-Fernsehgarten wandelt, schließt John mit einem famos-ekstatischen Pianosolo. "Earthling" erweist sich als Album, das Spaß an wilden Sprüngen und entsprechend wenig Zeit für Konsistenz hat, zugleich aber thematisch komplexer verfährt, als es zunächst aussieht. Im abschließenden "On my way" summt Vedder ein berührendes Duett mit einer Aufnahme seines lange verstorbenen leiblichen Vaters – richtig, der "real daddy" aus "Alive" – und schließt den textlichen Kreis zum Opener. Und wenn an anderer Stelle Vedders Töchter Harper und Olivia mit dem Vater harmonieren, wird klar: Hinter "Earthling" verbirgt sich auch die Skizze eines Familienporträts. Trotz manchen kleineren Fehlgriffs stecken die Dynamik und Spielfreude Vedders und seiner diversen All-Stars letztlich immer wieder an. Eine Statue muss man dieser Legende hingegen noch nicht bauen: Sie würde ohnehin davonlaufen.
Highlights
- Brother the cloud
- Good and evil
- Rose of Jericho
Tracklist
- Invincible
- Power of right
- Long way
- Brother the cloud
- Fallout today
- The dark
- The haves
- Good and evil
- Rose of Jericho
- Try
- Picture
- Mrs. Mills
- On my way
Gesamtspielzeit: 46:44 min.
Album/Rezension im Forum kommentieren (auch ohne Anmeldung möglich)
Teile uns Deine E-Mail-Adresse mit, damit wir Dich über neue Posts in diesem Thread benachrichtigen können.
(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
---|---|
Z4 Postings: 8861 Registriert seit 28.10.2021 |
2023-10-19 10:24:46 Uhr
Wunder mich immer, dass er noch lebt, alle anderen der großen Grungesänger sind inzwischen tot, oder? |
VelvetCell Postings: 7803 Registriert seit 14.06.2013 |
2023-10-19 10:20:52 Uhr
Into the Wild ist ja ein Alltime-Favorite von mir.Earthling habe ich gestern nochmal aufgelegt. Und wenn Into the Wild an der 10 kratzt, dann kann Earthling nicht mehr als eine 6 sein. Das ist alles toll eingespielt und produziert – aber am Ende doch zu glatt. Und das, obwohl die Platte rockiger ist, als ich sie in Erinnerung hatte. Das Problem ist wohl einfach: Das Album berührt mich nicht. |
fuzzmyass Postings: 17810 Registriert seit 21.08.2019 |
2022-02-15 02:59:01 Uhr
Eddie Vedder in Conversation with Bruce Springsteen:https://m.youtube.com/watch?v=PhqKCQXI8s0 |
Sneaky Johnson Postings: 81 Registriert seit 27.01.2022 |
2022-02-13 17:45:23 Uhr
fuzzmyass... für Menschen, die mich mit ihrer Kunst mein Leben lang begleiten und dieses enorm bereichert haben ... gebe ich gerne Geld aus... Absolut, bravo! |
ijb Postings: 6756 Registriert seit 30.12.2018 |
2022-02-13 16:11:33 Uhr
Ja, durchaus... Die neue LP von Mattiel möchte ich schon auch sehr gerne wieder als LP haben, aber dass sie nicht mehr 18 bis 20 kostet, wie die vorigen beiden, sondern ab 25 aufwärts, finde ich schon sehr frustrierend. Bei Idles das gleiche. Ich kaufe deshalb im Gegenzug andere Alben nicht oder eben nur auf CD. |
Hinterlasse uns eine Nachricht, warum Du diesen Post melden möchtest.
Referenzen
Pearl Jam; Neil Young; R.E.M.; Chris Cornell; Soundgarden; Cat Stevens; Cat Power; Tom Petty; Bruce Springsteen; Bob Dylan; Paul McCartney; Jakob Dylan; Ben Harper; U2; Alain Johannes; The John Butler Trio; Simon & Garfunkel; Kings Of Convenience; The Frames; The Swell Season; Glen Hansard; Donovan Frankenreiter; Jack Johnson; Ray LaMontagne; J Mascis; Mark Lanegan; William Fitzsimmons; Damien Rice; Jeff Buckley; Xavier Rudd; Ryan Bingham; James Vincent McMorrow; The Nightwatchman; City And Colour; Dave Matthews Band; My Morning Jacket; Iron & Wine; Band Of Horses; Bon Iver; The Low Anthem; The Head And The Heart; The Tallest Man On Earth
Bestellen bei Amazon
Weitere Rezensionen im Plattentests.de-Archiv
Threads im Plattentests.de-Forum
- Eddie Vedder - Into the wild (62 Beiträge / Letzter am 27.12.2023 - 19:57 Uhr)
- Eddie Vedder - Earthling (36 Beiträge / Letzter am 19.10.2023 - 10:24 Uhr)
- Eddie Vedder - Neues Album? (1 Beiträge / Letzter am 18.11.2021 - 19:06 Uhr)
- Eddie Vedder & Glen Hansard & Cat Power - Flag day (Original soundtrack) (12 Beiträge / Letzter am 05.10.2021 - 20:08 Uhr)
- Eddie Vedder - Neue Songs (2 Beiträge / Letzter am 19.11.2020 - 21:01 Uhr)
- Eddie Vedder - Ukulele songs (73 Beiträge / Letzter am 28.02.2019 - 00:02 Uhr)
- Eddie Vedder live (2 Beiträge / Letzter am 07.03.2017 - 21:53 Uhr)
- Eddie Vedder - Water on the Road - Live (DVD) (9 Beiträge / Letzter am 13.05.2012 - 02:21 Uhr)