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Yeule - Glitch princess

Yeule- Glitch princess

Bayonet / Cargo
VÖ: 04.02.2022

Unsere Bewertung: 7/10

Eure Ø-Bewertung: 8/10

Geist im System

Digital ist besser, und vor die Tür gehen wurde eh schon immer überbewertet, wenn man "Glitch princess" Nat Ćmiel aus London fragt. Eingepfercht im eigenen Zimmer ganz im Sinne des japanischen "Hikikomori"-Phänomens, existierte Ćmiel schon 2012, damals noch im heimischen Singapur, hauptsächlich im Internet – dort treffen sich schließlich die Leute, die wirklich einander verstehen – und tritt auch heute eher als depressive, virtuelle "cyborg entity" denn als wirklicher Mensch auf. Der auf links gedrehte J-Girl-(Dream-)Pop, der seitdem unter dem Projektnamen Yeule durch die digitale Sphäre spukt, ist mit Händen nicht zu greifen. Der zweite Langspieler "Glitch princess" frisst sich wie ein Virus durch Identitäts-, Beziehungs- und Besitzfragen, und der gesamte Albumtitel wäre Programm, hätten die Figur Yeule oder Ćmiel selbst denn ein festgelegtes Geschlecht. Glitch hingegen könnte als Überbegriff kaum treffender gewählt sein angesichts der schamlosen Dekonstruktion eines gerade in Ostasien beliebten Pop-Industrie-Sounds.

Schon zum Einstieg zählt Ćmiel auf, was im Poesiealbum alles einen Eintrag bei "Ich mag…" verdient hätte: "genderless people", eine Katze namens Miso, "getting fucked" oder auch, ein bisschen besorgniserregend, "obsessing over people and then throwing them away". Verstören will gelernt sein! Meist latent träumerischer und noisig-zerfurchter Chiptune-Elektro-Pop bildet anschließend den Großteil von "Glitch princess", mal konventioneller und dancefloortauglicher wie in "Too dead inside", mal schräger wie in "I <3 U" – aber immer, gerade durch den stimmlichen Vortrag zwischen psychopathischer Grundschülerin und Mainstream-Popstar, sehr eigen. Das Beinahe-Kinderlied "Eyes" klingt ein bisschen so, als würde Sadako aus dem originalen japanischen "Ring"-Video ihre Körperlichkeit ergründen wollen, käme aber aus dem Gameboy statt dem Fernseher gekrochen. "How can I burn out of my own real body?" Oder: Wie höre ich auf, Mensch sein zu müssen, und lade mein Bewusstsein komplett ins Cyberspace?

Formvollendete Harmonien mit Schlafzimmerblick wie in "Electric", dem auch gesanglich besten Stück, werden oft lediglich angedeutet. Gleichzeitig dürfen luftige Stücke wie "Don’t be so hard on your own beauty" – dessen Lyrics krasser ausfallen, als der Titel erahnen ließe – halbwegs normal und leicht verdaulich sein, hier sogar mit analog-akustischer Gitarrenbegleitung. Unendlich weit weg vom Stil einer, sagen wir, Billie Eilish ist das alles gar nicht, wenn auch deutlich radikaler in seinem textlichen Zugang zu Themen wie sexueller Selbstbestimmung (und -befriedigung), autoaggressivem Verhalten und missbräuchlichen sozialen Beziehungen. Mit Tohji bringt sogar ein gar nicht mal unbekannter japanischer Rapper Reste seiner vom Autotune verkrüppelten Stimme in "Perfect blue" ein, das wohl nicht nur zufällig so heißt wie ein Anime-Klassiker aus den Neunzigern. Yeule macht Nägel mit Köpfen. Bis "The things they did for me out of love" dann noch eine besondere Ambient-Überraschung bereithält.

Denn tatsächlich zieht Ćmiel durch, was sich bei einem flüchtigen Blick auf die Gesamtlaufzeit des Albums schon erahnen ließ: Der Abschluss-Track beziehungsweise -Ton wabert geschlagene drei Stunden und 23 Minuten vor sich hin, wird zwischendurch zwar mal von Regengeräuschen, sonstigen Alltagsimpressionen oder auch dröhnender Stille unterbrochen, bleibt seinem sämtliche konventionelle Hörgewohnheiten untergrabenden Charakter aber bis zum bitteren Ende treu. Dieser Mut zur Konsequenz ist nur folgerichtig, wenn man "Glitch princess" bis hierher überstanden hat. Primär ist das zweite Album des Projekts Yeule eben Kunst und ein Abgesang auf die bonbonbunte Unterhaltungs-Norm – Musik im klassischen Sinne nicht immer unbedingt, wenn man sich weiteres Störfeuer wie "Fragments" zu Gemüte führt. In Ćmiels erträumter Zukunft lebt niemand mehr unter Leuten, aber alle im Computer, dieser "friendly machine". Dort sind alle Freunde, die Du brauchst – und die haben sogar Cookies.

(Ralf Hoff)

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Highlights

  • Electric
  • Eyes
  • Don't be so hard on your own beauty
  • Friendly machine

Tracklist

  1. My name is Nat Ćmiel
  2. Electric
  3. Flowers are dead
  4. Eyes
  5. Perfect blue (feat. Tohji)
  6. Don't be so hard on your own beauty
  7. Fragments
  8. Too dead inside
  9. Bites on my neck
  10. I <3 U
  11. Friendly machine
  12. Mandy
  13. The things they did for me out of love

Gesamtspielzeit: 327:18 min.

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User Beitrag

Randwer

Postings: 3135

Registriert seit 14.05.2014

2023-02-27 21:02:56 Uhr
interessant

Armin

Plattentests.de-Chef

Postings: 27229

Registriert seit 08.01.2012

2022-02-02 21:07:06 Uhr - Newsbeitrag
Frisch rezensiert.

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