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Tocotronic - Nie wieder Krieg

Tocotronic- Nie wieder Krieg

Vertigo / Universal
VÖ: 28.01.2022

Unsere Bewertung: 8/10

Eure Ø-Bewertung: 7/10

Verstehen die Spaß?

Wie ernst meinen es Tocotronic? Nein, wirklich – viel wird geredet über die angebliche Verschlagerung der Band spätestens seit dem roten Album, woran auch das einigermaßen klassische "Die Unendlichkeit" mit seinem über die Tracklist gespannten Lebensbogen nichts änderte. Ihr 13. Album "Nie wieder Krieg" beginnt das Hamburger Quartett mit den Worten: "Nie wieder Krieg, nie wieder Krieg, nie wieder Krieg / Keine Verletzung mehr / Nie wieder Krieg, nie wieder Krieg, nie wieder Krieg / Das ist doch nicht so schwer." Zwischen Erzählungen von Sanifair-Coupons und Horoskopen klingen die Glocken, so als wollten Tocotronic ihr ureigenes "Do they know it's Christmas?" schreiben. Oder eben ihre Variante des Pulp'schen Videos zu "Bad cover version". Der Charity-Chor aus Prominenten, in drei Reihen vor den Mikrofonen aufgestellt, ist jedenfalls nicht weit vom inneren Auge entfernt. Also: ernsthaft oder Witz?

Natürlich ist der sloganhafte Titel – mit seiner grellen Farbe auf dem Artwork sogar in der Popel-Auflösung bei Plattentests.de mühelos entzifferbar – eine Brechung. Keinesfalls geht es um den weltlichen Krieg, sondern den, den man gegen sich selbst führt. "Nie wieder Krieg / In Dir / In uns / In mir." Tocotronic scheuen dabei die peinliche Geste nicht und genau das lässt den Song überhaupt erst funktionieren. Man ersetze das "oder" aus der obigen Frage durch "und": Das Augenzwinkern macht das Anliegen nicht weniger ernst. Auch wenn der Closer "Liebe" in schunkelnder Heimeligkeit noch einen draufsetzt: "Spürst Du nicht die Liebe? / Sie verändert Dich." Dass neben "Hoffnung", welches in leicht aufpolierter Form auf "Nie wieder Krieg" direkt davor vertreten ist, kein Song "Glaube" heißt, ist die einzige Enttäuschung, die man hinnehmen muss. Schließlich ist die optimistische Botschaft des ergreifenden Stücks noch aktuell – nicht trotz, sondern wegen des "Jenseits von Eden"-Zitats.

"Nie wieder Krieg" wurde im Gegensatz zu den beiden Vorgängern wieder in Teilen live aufgenommen, was man den etwas raueren Feedback-Texturen des mitreißenden "Komm mit in meine freie Welt" und der ebenfalls kaum minder beschwingten Single "Jugend ohne Gott gegen Faschismus" anmerkt. Auch bei Letzterem deutet der Titel Politik an, letztlich geht es aber um Gefühle und Ausdruck. "Auf der Straße siehst Du Dinge, die Du alle nicht besitzt / Es sind Deine Zwänge, die Du mit Füßen trittst." Dass darauf drei Songtitel folgen, die mit "ich" beginnen, darf als kleiner Seitenhieb auf das eigene Œuvre verstanden werden. Zudem ist der The-Smiths-Gedächtnis-Popsong "Ich hasse es hier" eine weitaus bessere Auflockerung als damals "Bitte oszillieren Sie". Auch wenn es an einen Spoiler grenzt, diese Passage muss zitiert werden: "Ein Lichtstrahl, der mich blendet, dringt aus meinem Tiefkühlfach / Dort liegt eine Pizza, die ich aufzupeppen versuch' / Mit Kräutern der Provence / Hab' ich keine Chance / Ich hasse es hier."

Der verspielte Poprock von "Ich gehe unter", der an Stücke wie "Haft" oder "Exil" erinnert, bietet nicht nur vom Namen her die Rampe zur rührenden Ballade "Ich tauche auf", bei der sich Anja Plaschg alias Soap&Skin die Ehre als Duettpartnerin in einer der schönsten Balladen der Band gibt. In kryptischen Zeilen besingen Plaschg und Dirk Von Lowtzow eine Liebe, die nicht sein kann oder darf, umkreisen sich zu reduziert schwebender Instrumentierung, um am Ende doch wieder abzutauchen. "Auch manches Lied ist Dir gewidmet / Entschuldigung, ich muss jetzt gehen / Ich kann nur eine Viertelstunde im Schlund überstehen." Ähnlich tief ins Herz sticht "Ein Monster kam am Morgen", dessen wirklich fantastisches Streicher-Arrangement die tiefe Sehnsucht nach einem Ausweg untermalt – darunter ein oberflächlich gelassener Groove, der eine dunkle Seele verdeckt. "Monster, bring' mich fort von hier / Eine Entführung wünsch' ich mir so sehr / Monster, ich folge Dir durch die Schranktür / Für immer", fleht Von Lowtzow.

Es ist nicht das einzige Mal, dass Tocotronic auf "Nie wieder Krieg" bittere Pillen in süße Ummantelung verpacken. "Crash" blickt ein weiteres Mal nach "Tapfer und grausam" zurück ins Kindheitsalter, vermengt eine Autofahrt in der Gegenwart, die plötzlich gewaltsam endet, mit melancholischen Flashbacks und jubilierenden Gitarren. Das "herzliche Lachen" weicht in "Leicht lädiert" einer treffenden Beschreibung der Gebrechen, die man spürt, wenn man die 30 überschreitet. Der "Crash" also metaphorisch für den beginnenden Verfall? Tocotronic bleiben empathisch, aber hüllen sich in Unklarheit, was sie von jeglichem Schlager wirklich weit, weit wegrückt. "Nie wieder Krieg" ist auf fast schon zu selbstverständliche Weise ein weiteres Meisterwerk, das entschlüsselt werden will, eine würdige Fortführung des Gesamtwerks. Ohne Angst vorm Kitsch, ohne Gefahr der Seichtheit. Kann man gleichzeitig lachen und weinen, zurück und nach vorne blicken? Klar. Wir sind ganz sicher schon einmal hier gewesen.

(Felix Heinecker)

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Highlights

  • Komm mit in meine freie Welt
  • Ich tauche auf (feat. Soap&Skin)
  • Ein Monster kam am Morgen
  • Hoffnung

Tracklist

  1. Nie wieder Krieg
  2. Komm mit in meine freie Welt
  3. Jugend ohne Gott gegen Faschismus
  4. Ich gehe unter
  5. Ich tauche auf (feat. Soap&Skin)
  6. Ich hasse es hier
  7. Nachtflug
  8. Ein Monster kam am Morgen
  9. Crash
  10. Leicht lädiert
  11. Hoffnung
  12. Liebe

Gesamtspielzeit: 45:51 min.

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(Neueste fünf Beiträge)
User Beitrag

Deaf

Postings: 2653

Registriert seit 14.06.2013

2023-05-12 11:18:30 Uhr
Die aktuelle Setlist scheint ziemlich identisch mit jener vom letzten Juni zu sein, als ich sie zuletzt gesehen habe. Daher halb so schlimm, dass ich heute nicht dabei sein kann.

fakeboy

Postings: 4661

Registriert seit 21.08.2019

2023-05-09 23:53:34 Uhr
Neuer Lieblingssong: Ich gehe unter

Ich beginne das Album richtig zu mögen. Hoffe dass sie am Freitag viele Songs davon spielen.

manukaefer

Postings: 252

Registriert seit 16.06.2013

2023-05-08 20:22:20 Uhr
Morgen in Bielefeld!

Mitschi

Postings: 452

Registriert seit 29.09.2022

2023-05-08 17:18:19 Uhr
War im sommer in wien und war schwer begeistert.

Francois

Postings: 780

Registriert seit 26.11.2019

2023-05-08 07:25:46 Uhr
Berlin Years habe ich ja leider verpasst, aber da ich bei den letzten 3-4 Touren immer dabei war, wars zu verkraften - jetzt wo es im November wieder ein Wien Konzert geben wird.

Hamburg Years fand ich dagegen super. Noch richtig punkig, viele alte Sachen, die ich früher nicht gehört und live gesehen habe...

Freue mich schon auf das reine "Nie wieder Krieg"-Konzert - und hoffe sehr auf "Nachtflug"!
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