Beirut - Artifacts

Pompeii / Cargo
VÖ: 28.01.2022
Unsere Bewertung: 7/10
Eure Ø-Bewertung: 8/10

Timestamps from Santa Fe
Wer unter Trypophobie leidet, sollte besser keinen Blick auf Zach Condons Weltkarte werfen. Im ganzen Indie-Kosmos des 21. Jahrhunderts steht wohl kein Act so sehr für Weltenbummlerei wie Beirut, und doch schaffen es seine Dartpfeile immer wieder, völlig unerwartete Ziele zu treffen. "Artifacts" bildet da keine Ausnahme, doch vollzieht es seine Bewegung noch auf einer anderen Ebene als der geografischen: Es ist eine Zeitreise. Eigentlich wollte Condon nur ein paar frühe EPs für ein physisches Re-Release zusammenstellen, doch blieb er beim Sichten seiner Festplatten auch bei anderen, teils noch älteren und komplett unveröffentlichten Tracks hängen. Das Resultat ist Beiruts erste Raritäten-Sammlung, die in vierteiliger, aber nicht chronologischer Form diverse Schätze ihres Masterminds ans Tageslicht befördert – und deren abenteuerlichster und ergiebigster Ausgrabungsort ein Kinderzimmer irgendwo in New Mexico darstellt.
Den Anfang macht die zwischen "Gulag Orkestar" und "The flying club cup" veröffentlichte EP "Lon Gisland". Ein wohliger Einstieg, der das Zeitkapsel-Versprechen gleich erfüllt: Wer die jüngsten Alben Beiruts dafür bedauert, die charakteristischen Einflüsse aus dem Balkan und anderen Ecken der Welt zugunsten eines geschliffeneren Indie-Pop- und -Folk-Sounds zurückgeschraubt zu haben, kann sich hier in warmer Nostalgie sonnen. Schlüsselstück ist freilich das längst zum Bandklassiker gewordene "Elephant gun", das erst nur mit Ukulele von der Sehnsucht singt, bis Marsch-Drums und Bläser die Ambiguität des Aufbruchs vermitteln, der immer auch etwas Altes begräbt. Es ist Condons musikalischer Arjen-Robben-Move, der mit Tränen auf der Wange und Jubel im Bauch auch in der zigsten Wiederholung noch ins Schwarze trifft. Diesen ersten Teil von "Artifacts" komplettieren die B-Seite "Transatlantique" sowie "O Leãozinho": ein für den zweiten "Rio"-Sampler der Red Hot Organization aufgenommenes Cover der brasilianischen Tropicália-Legende Caetano Veloso mit einer wundervollen, luftigen Melodie.
2011 erschien jener Song, nachdem Condon seine Leidenschaft für andere Sprachen und Kulturen bereits viele Jahre frei ausleben konnte. Das war nicht immer so. Unter den Titeln "The misfits" und "New directions and early works" versammeln der zweite und dritte Part dieser Compilation größtenteils die frühesten Aufnahmen eines amerikanischen Teenagers, der Fellini-Filme auf seine Zimmerdecke projizierte und von Europa träumte. Mit ihren Drumcomputern und Heimorgeln wirken viele dieser Tracks zweifelsfrei etwas billig, doch das Talent ihres Erschaffers scheint überall durch. Ob "Your sails" ein kleines Klagelied auf dem Akkordeon der Oma vorträgt, "Hot air balloon" die nur selten vernommene E-Gitarre zur Hand nimmt oder "Interior of a Dutch house" fidelen Trompeten-Pop auf Piano und in der Mitte switchendem Beat fabriziert: Die Erkundungslust Condons, die in seiner Stimme brodelnden Gefühlstumulte, sein Ausprobieren unterschiedlichster analoger wie elektronischer Klangerzeuger, faszinieren ungemein. Das größte Highlight stellt dabei das dramatische "Now I'm gone" dar, das mit etwas mehr Feinschliff in Arrangement und Produktion Potenzial zu einem der höchsten Gipfel im Beirut-Katalog gehabt hätte.
Hier wird dann auch ersichtlich, was Condon damals noch zur makellosen Realisation seiner Vision fehlte: eine Band. Wenn "Fisher Island Sound" das Schlussviertel der Platte eröffnet, das B-Seiten aus späteren Jahren vereint, fällt der Kontrast zu den vorhergegangenen Heimaufnahmen sofort auf. Doch im Herzen ist der Wahl-Berliner stets der neugierige Junge aus Santa Fe geblieben, entdeckt etwa in manchen Stücken seine Liebe fürs Wurlitzer-Piano oder zieht mit "Die Treue zum Ursprung" eines seiner ausdrucksstärksten Instrumentals hoch, dessen portugiesische Fado-Gitarre mit Tasten und Streichern zu einem wundersamen Konvolut verschmilzt. Diese Gabe, über Zeit- und Raumgrenzen hinweg unterschiedlichste Strömungen aufzusaugen und in eine eigene Form des Wohlklangs zu gießen, durchzieht auch die vermeintliche Ausschussware von "Artifacts" mit jeder Pore. Zach Condon bleibt der weltoffenste Schwamm des Indie-Pop.
Highlights
- Elephant gun
- O Leãozinho
- Now I'm gone
- Fisher Island Sound
- Die Treue zum Ursprung
Tracklist
- Part 1
- Elephant gun
- My family's role in the world revolution
- Scenic world
- The Long Island Sound
- Carousels
- Transatlantique
- O Leãozinho
- Part 2
- Autumn tall tales
- Fyodor dormant
- Poisoning Claude
- Bercy
- Your sails
- Irrlichter
- Part 3
- Sicily
- Now I'm gone
- Napoleon on the Bellerophon
- Interior of a Dutch house
- Fountains and tramways
- Hot air balloon
- Part 4
- Fisher Island Sound
- So slowly
- Die Treue zum Ursprung
- The crossing
- Zagora
- Le phare du Cap Bon
- Babylon
Gesamtspielzeit: 87:00 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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Armin Plattentests.de-Chef Postings: 24630 Registriert seit 08.01.2012 |
2022-01-19 20:51:37 Uhr - Newsbeitrag
Frisch rezensiert.Meinungen? |
Kalle Postings: 294 Registriert seit 12.07.2019 |
2021-10-24 18:26:23 Uhr
Sehr schöner Song, wobei das Hintergrundmotiv von Divine Comedy (a lady of a certain age)geklaut ist. |
KingOfCarrotFlowers Postings: 162 Registriert seit 07.02.2018 |
2021-10-21 16:06:24 Uhr
das wird großartig |
Peacetrail Postings: 3627 Registriert seit 21.07.2019 |
2021-10-20 21:50:10 Uhr
Solche Songs muss man einfach mögen. Nur zur Info: Hier wurden übrigens sechs Beirut-Alben bewertet: 4mal 8/10, 2mal 7/10. |
Armin Plattentests.de-Chef Postings: 24630 Registriert seit 08.01.2012 |
2021-10-20 18:38:43 Uhr - Newsbeitrag
Zach Condon, das Mastermind hinter Beirut, hat heute Artifacts angekündigt, eine Doppel-LP, die die Entwicklung von Beirut nachzeichnet, von den ersten Versuchen des 14-jährigen Condon, die Musik, die er in seinem Kopf hörte, zum Leben zu erwecken, bis zu dem Beirut, den wir heute kennen.Artifacts begann ganz bescheiden als Mittel, um ein paar frühe Beirut-EPs für eine physische Veröffentlichung zusammenzustellen. Wie Condon jedoch in den Liner Notes (siehe Download) des Albums erklärt, wurde aus einem einfachen Re-Issue-Projekt durch das Wiederaufgreifen alter Aufnahmen mit neuen Ohren etwas viel Umfangreicheres. "Als die Entscheidung fiel, diese Sammlung zu veröffentlichen, habe ich mich dabei ertappt, wie ich meine Festplatten durchwühlte, um etwas Zusätzliches zu finden, das ich hinzufügen konnte. Was mit ein paar zusätzlichen, unveröffentlichten Tracks aus meinen prägenden Jahren begann, wuchs schnell zu einer ganzen Reihe zusätzlicher Platten mit Musik aus meiner Vergangenheit heran, und zu einem größeren Projekt, bei dem ich alles, was ich fand, remixte und remasterte." Das vollständige Tracklisting findet ihr unten. Album Pre Order: https://beirut.ffm.to/artifacts Vorab erscheint der bisher unveröffentlichte Song "Fisher Island Sound": https://beirut.ffm.to/fisherislandsound "Dieser Song wurde geschrieben, als ich in dem alten Familienhaus von Bandmitglied Ben Lanz an der Küste von Connecticut, am Fisher Island Sound, wohnte. Ich spielte jahrelang mit dem Text, bevor ich versuchte, in Brooklyn mit der Band eine Version aufzunehmen. Perrin Cloutier hatte sich selbst beigebracht, wie man ein neues Knopfakkordeon wunderbar spielt, und die Band klang wirklich toll. In jenen Jahren fiel es mir jedoch schwer, die Songs mit Gesang zu versehen, und aus Angst, Stress und Selbstzweifeln habe ich einen Großteil der Musik aus dieser Zeit in diesem Teil der Sammlung gestrichen. Seitdem habe ich einige dieser alten Songs in einem anderen Licht wiederentdeckt, aber sie erinnern mich immer noch stark an diese unsicheren Zeiten. Beirut’s Zach Condon entdeckte die Blasmusik vom Balkan, als er in seiner Jugend durch Europa reiste. Mit seinem Debütalbum Gulag Orkestar machte er sich diesen Sound zu eigen - eine Platte, die sehr erfolgreich wurde und ihn weltweit bekannt gemacht hat. Die EP Lon Gisland und das gefeierte zweite Album The Flying Club Cup folgten nur ein Jahr später und markierten eine äußerst kreative Phase für Zach. Seine Doppel-EP March of the Zapotec und Real People Holland (eine davon mit einer 19-köpfigen mexikanischen Gruppe aufgenommen, die anderen sechs elektronischen Tracks unter dem Pseudonym Realpeople) boten einen leicht veränderten Sound, bevor sein drittes Album, Rip Tide, fünf Jahre nach seinem Debüt erschien und von Kritikern als Beweis für eine neue Reife in seinem Songwriting gewertet wurde. Sowohl für sein viertes Album No No No als auch für sein 2019 erscheinendes Album Gallipoli arbeitete Zach mit dem Produzenten Gabe Wax zusammen. Gallipoli ist nach der Stadt in Apulien, Italien, benannt, in deren Nähe das Album aufgenommen wurde, und ist "eine Destillation des besten Beirut-Sounds und bei weitem ihr bestes Album bisher" (The Line of Best Fit). Artifacts Tracklisting: SIDE A - Lon Gisland, Transatlantique, O Leãozinho 01 - Elephant Gun 02 - My Family's Role In The World Revolution 03 - Scenic World 04 - The Long Island Sound 05 - Carousels 06 - Transatantique 07 - O Leãozinho SIDE B – The Misfits 08 - Autumn Tall Tales 09 - Fyodor Dormant 10 - Poisoning Claude 11 - Bercy 12 - Your Sails 13 - Irrlichter SIDE C - New Directions and Early Works 14 - Sicily 15 - Now I'm Gone 16 - Napoleon On The Bellerophon 17 - Interior of a Dutch House 18 - Fountains and Tramways 19 - Hot Air Balloon SIDE D – The B-Sides 20 - Fisher Island Sound 21 - So Slowly 22 - Die Treue zum Ursprung 23 - The Crossing 24 - Zagora 25 - Le Phare Du Cap Bon 26 - Babylon https://www.beirutband.com |
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Referenzen
Devotchka; A Hawk And A Hacksaw; Fanfarlo; Get Well Soon; Owen Pallett; Final Fantasy; Alaska In Winter; Neutral Milk Hotel; Arc Iris; Calexico; The Decemberists; Arcade Fire; Yann Tiersen; Andrew Bird; Devendra Banhart; Fleet Foxes; Noah And The Whale; Of Monsters And Men; Sufjan Stevens; Villagers; The Tallest Man On Earth; Bright Eyes; Iron & Wine; Edward Sharpe & The Magnetic Zeros; Other Lives; Dry The River; The Head And The Heart; Belle And Sebastian; The Magnetic Fields; The Divine Comedy; Brown Bird; The National; The Slow Show; Gogol Bordello; Kaizers Orchestra
Surftipps
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