Cassandra Jenkins - An overview on phenomenal nature
Ba Da Bing!
VÖ: 19.02.2021
Unsere Bewertung: 8/10
Eure Ø-Bewertung: 9/10
Trauerweisen
Manche Stimmen benötigen bloß wenige Sekunden, um sich Gehör zu verschaffen und kein Donnern, um den Raum zu füllen. "I'm a three-legged dog, workin' with what I got", so stellt sich Cassandra Jenkins vor. Ihr Gesang klingt warm und kraftvoll, die angeschlagene Gitarre grundiert ihn in lässiger Eleganz. Eine Metapher, die einerseits die eigene Versehrtheit preisgibt und dabei doch eine trotzige Anpassungsfähigkeit inszeniert: Das Gehen mit Phantomschmerzen muss neu erlernt werden. Auch als dreibeiniger Hund gelingt "Michelangelo" der seltene Spagat, eingängiger Indie-Pop ohne Refrain zu sein, seine Spielfreude gar mit einem quirligen Fuzz-Solo und Streichertänzen zu garnieren, während Jenkins von einem profunden Vers zum nächsten hüpft, als wäre es ein Leichtes, präzise Bilder für unklare Zustände zu finden. Und als zutiefst persönliches Album bedenkt "An overview on phenomenal nature" globale Verrückungen gleich mit: "There's a fly around my head / Waiting for the day I drop dead / My DNA looks pretty strange / Can you see it on my breath?"
Was kann auf einen der besten Songs des Jahres folgen, ohne dass er ein ganzes Album überschattet? Jenkins hat die kluge Entscheidung getroffen, den Opener zum stilistischen Ausreißer zu machen, der jedoch thematisch den Weg bereitet für das, was folgt. So bedienen sich die weiteren sechs Songs anderer Mittel, um ein ähnliches Spannungsfeld zu umreißen, das komplexer kaum sein könnte: Trauer und Verlust, das Verhältnis von Mensch und Natur und die Porosität des eigenen Selbst. "New bikini" tastet sich behutsam voran als angejazzte Folk-Ballade, luftig arrangiert zwischen Klavierakkorden, sanften Basslinien und im Hintergrund vorbeiziehenden Bläsern, während der Ozean zum vermeintlichen Sehnsuchtsort wird. Das exzellente "Hard drive" sammelt mit seinem durch die Straßen New Yorks treibenden Schlagzeug diverse Begegnungen, in denen Jenkins als Spoken-Word-Journalistin Möglichkeiten der Sinnsuche nachspürt.
"An overview on phenomenal nature" legt stets großen Wert auf seine atmosphärische Dichte, flackert mit betörenden Ausblicken und kennt zugleich den Wert der Stille zwischen den Worten. Der Albumtitel mutet an wie eine wissenschaftliche Abhandlung und drückt doch Staunen aus, in seinem Sinne kleidet Jenkins abstrakte Fragen in ein alltägliches Gewand. Unterstützt wird sie dabei durchgehend vom Multiinstrumentalisten Josh Kaufman, der ihre Reflektionen famos begleitet. Es ist zum Dahinschmelzen, wenn sich in "Crosshairs" die zärtliche Slide-Gitarre mit den Streicherteppichen träumerisch verwebt, während Jenkins den poetischen Kontrollverlust zelebriert: "It's in the crosshairs / Of a stranger's stare / I'm lost at last." Doch weht vor allem auch eine Abwesenheit durch das Album. "Ambiguous Norway" nimmt die Reiseerfahrung zum Anlass, um eine berührende Hommage auf David Berman zu singen: Eingeweihte kennen den Titel aus einem seiner skurrilen Cartoons. Jenkins hätte 2019 mit Bermans Purple Mountains auf eine Tour gehen sollen, die durch seinen Tod nie zustande kam. Über weichen Ambient-Synth-Flächen formuliert Jenkins knapp das Paradox der Trauer – "You're gone, you're everywhere" –, um schließlich Halt in Bermans lyrischem Scharfsinn zu finden: "The poetry / It's not lost on me / I walk around alone / Laughing in the street."
Nach dem akustisch geprägten "Hailey", das nur wenige Pinselstriche zur platonischen Liebeserklärung benötigt, schließt "An overview on phenomenal nature" mit einem siebenminütigen Instrumental namens "The ramble" – durchaus überraschend bei einem solch wortgewandten Album. Field Recordings verzeichnen Vogelgezwitscher, die piependen Laderampen von LKWs, Kinder- und Hundestimmen, Schritte, bevor idyllischer Ambient alles umschließt. Im Central Park habe Jenkins diese Geräusche aufgezeichnet, ganz in der Nähe der überlasteten Krankenhäuser Manhattans. Wo Trauer und Schönheit Nachbarn wurden, sind schließlich auch diese Songs entstanden.
Highlights
- Michelangelo
- Hard drive
- Crosshairs
Tracklist
- Michelangelo
- New bikini
- Hard drive
- Crosshairs
- Ambiguous Norway
- Hailey
- The ramble
Gesamtspielzeit: 31:44 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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saihttam Postings: 2454 Registriert seit 15.06.2013 |
2022-08-25 10:11:33 Uhr
Kurze Zeit für Werbung! Kommt dieses Wochenende alle zum Golden Leaves Festival nach Darmstadt, wenn ihr Cassandra Jenkins live sehen wollt! Das Festival braucht dringend Geld, um die Weiterexistenz zu sichern und das Line-Up ist fantastisch. :D |
Unangemeldeter Postings: 1443 Registriert seit 15.06.2014 |
2022-06-12 17:03:55 Uhr
Falls das außer mir noch jemand nicht mitbekommen hat: Cassandra Jenkins spielt kommenden Dienstag (14.6.) in Berlin in der Volksbühne! Durch völligen Zufall an einem Plakat vorbeigelaufen und gleich ein Ticket gekauft. Freue mich mega dass ich sie nun doch endlich mal live sehen kann. Es scheint keine richtige Tour zu sein, für Deutschland habe ich sonst nur für den 1. September ein Konzert in Hamburg gefunden. |
Grizzly Adams Postings: 5242 Registriert seit 22.08.2019 |
2022-01-27 16:13:01 Uhr
Was für ein großartiges Album! Auch für meine Ohren unbedingt eine der vergessenen Perlen, die hier völlig zurecht noch Aufmerksamkeit bekommen hat. Das ist Musik für die Seele. :-) |
kingbritt Postings: 5182 Registriert seit 31.08.2016 |
2022-01-04 20:07:13 Uhr
. . . wundervolles Album. |
Armin Plattentests.de-Chef Postings: 27172 Registriert seit 08.01.2012 |
2022-01-04 19:56:18 Uhr - Newsbeitrag
Frisch verspätet rezensiert. Als "Vergessene Perle 2021".Meinungen? |
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Referenzen
Julia Holter; Weyes Blood; Lisa Hannigan; Grouper; Eleanor Friedberger; Bedouine; The Weather Station; Adrianne Lenker; Phoebe Bridgers; Julien Baker; Lucy Dacus; Tomberlin; Nadia Reid; Lola Kirke; Japanese Breakfast; Lael Neale; Indigo Sparke; Fleet Foxes; Grizzly Bear; Department Of Eagles; Sufjan Stevens; Angelo De Augustine; Damon Albarn; David Thomas Broughton; Jono McCleery; Silver Jews; Purple Mountains; Bonnie 'Prince' Billy; Bill Callahan; Lee Ranaldo; Cat Power; Big Thief; Sharon Van Etten; Craig Finn; Kate Wolf; Joni Mitchell; George Harrison
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