Snail Mail - Valentine

Matador / Beggars / Indigo
VÖ: 05.11.2021
Unsere Bewertung: 6/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10

Let it be naked
"Fuck being remembered", singt Lindsey Jordan früh auf ihrem zweiten Album "Valentine". Man kann es ihr nicht verübeln – gerade in so jungen Jahren musste es für die als Snail Mail bekannte Künstlerin unvorstellbar überwältigend gewesen sein, den Buzz der Fachpresse auf sich zu ziehen und plötzlich als eines der größten Indie-Darlings ihrer Generation dazustehen. Jordan fühlte sich "like a baby in an adult job" und begab sich, nicht nur vom Erfolg überfordert, in die Entzugsklinik, wo sie nur mit Stift und Papier das Fundament für den Nachfolger des so hochgepriesenen "Lush" schaffte. Natürlich dient auch dieser in erster Linie als Atlas für ihr Gefühlsleben, der in all seiner Direktheit überhaupt keine Legende braucht. "Tagebuch-Pop" nennt das vielleicht der Zyniker, dessen Verbitterung bereits alle Erinnerungen an die emotionalen Tumulte der eigenen Jugend verdrängt hat. Alternativ kann man auch die an völlige Nacktheit grenzende Offenheit wertschätzen, mit der heutzutage viele junge Musikerinnen ihr Innerstes nach außen kehren und damit anderen eine Artikulation für sich geben, die sie selbst noch nicht gefunden haben.
Ein auf der Platte prägendes Stilmittel für diese Selbstentblößung ist der Kontrast. "Ben Franklin" trieft vor Wut und Enttäuschung über eine Ex, verpackt den Schmerz aber in ein Stück geschmeidigen Synth-Pops, das nur Jordans bissige Gesangsperformance und Lyrics vor der Harmlosigkeit retten – "But you said you'd die!" ist nicht gerade die offensichtlichste Zeile, um die man eine Hook herum baut. Der in den Neunzigern verwurzelte Indie-Rock des Debüts mit seinem charakteristischen Gitarren-Geschrammel bildet auf "Valentine" nur noch einen Teil der Palette, nicht ihr Gerüst. Stattdessen gibt es hier elektronische Annäherungen, allerdings auch mehr Sorgfalt im Balladen-Songwriting sowie generell elaboriertere Arrangement-Ideen wie etwa die in Matthew E. Whites Spacebomb-Studios aufgenommenen Streicher. Alles natürlich im Duktus der Subtilität gehalten, um Jordans Worten nie ihren Platz im Rampenlicht streitig zu machen.
Was nicht heißt, dass die Musik überhaupt keine Reizpunkte setzen würde. Der eröffnende Titeltrack entwickelt eine kathartische Wucht, wenn im Refrain die ganze Band in den zuvor ausgebreiteten Keyboard-Teppich kracht. Der wohl beste Song des Albums ist das melancholische "Headlock", in dem Theremin-artige Klänge und fernöstlich anmutende Tonfolgen den verstörenden Text begleiten: "Thought I'd see her when I died / Filled the bath up with warm water / Nothing on the other side." Kurz darauf nimmt "Forever (sailing)" in Tame Impalas Achtziger-Massagesessel Platz, leidet aber unter einer flachen Produktion mit etwas billig klingendem Drumcomputer. Das Gegenteil ist bei "Glory" der Fall, dessen druckvollem Rocksound der melodische Unterbau fehlt, um nachhaltig zu beeindrucken – kleine vertane Chancen, die gerade bei der kurzen Laufzeit von nur einer guten halben Stunde ärgerlich geraten.
Schon "Lush" fehlte an einigen Stellen noch die Kontur zum ganz großen Meisterwerk, auch wenn Hits wie "Pristine" und "Heat wave" sowie die Härte der emotionalen Kinnhaken die Gleichförmigkeit mehr als ausglichen. Auf "Valentine" sind solche Momente und Songs rarer, trotz größerer Stilvielfalt verklumpt die Platte zuweilen zu einer gefälligen, aber nur zaghaft aus dem Indie-Mainstream herausragenden Masse. Ein Jammer, gerade weil die reduzierteren Stücke im Vergleich zu früher gewonnen haben und vor allem das fast nur auf akustisches Fingerpicking beschränkte "C. et al." mit seinen plastischen Depressionsbildern tief ins Fleisch sticht: "Most days I just wanna lie down / Sleep it away till it's nothing and / Pull the blinds all the way down, down." Doch mit 22 Jahren hat Jordan noch eine ganze Karriere vor sich und nach wie vor das Potenzial, der alternativen Musikgeschichte länger im Gedächtnis zu bleiben – auch wenn sie das vielleicht gar nicht will.
Highlights
- Valentine
- Headlock
- C. et al.
Tracklist
- Valentine
- Ben Franklin
- Headlock
- Light blue
- Forever (sailing)
- Madonna
- C. et al.
- Glory
- Automate
- Mia
Gesamtspielzeit: 31:34 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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Saschek Postings: 720 Registriert seit 23.07.2018 |
2024-08-03 18:17:40 Uhr
Soll auch kein herausragendes Meisterwerk sein, sondern ist Bestandteil eines Soundtracks. Versteht sich eher als Hommage, als Verbeugung, als ein eigenständiges Kunstwerk. Ist doch schön, dass die nächste Generation den "wahren" Pumpkins so frönt. Handwerklich gut gemacht und auf den Zweck abgestimmt. Es wird sicher ein paar ihrer Follower auf die Pummkins aufmerksam werden lassen. Mission accomplished. |
meyhem Postings: 581 Registriert seit 15.06.2013 |
2024-08-03 16:53:42 Uhr
Mir gefällt einiges von Snail Mail aber irgendwie packt mich das Cover überhaupt nicht. |
Mr Oh so Postings: 3252 Registriert seit 13.06.2013 |
2024-08-03 01:39:12 Uhr
Also irgendwie macht der Song keinen Sinn mehr ohne die rohe Leidenschaft von Corgan, diese totale Hingabe, die er in seinem Gesang transportiert.(Wer sagt eigentlich, dass Corgan ein schlechter Sänger ist?) |
Saschek Postings: 720 Registriert seit 23.07.2018 |
2024-08-03 01:13:12 Uhr
Mir gefällt die Version. Werktreue kann auch geil sein. |
Trancentral303 Postings: 110 Registriert seit 05.06.2024 |
2024-08-02 20:58:01 Uhr
Okayes aber arg werktreues Cover ohne eigene Ideen. Da fand ich "Drown" von Alice Glass letztens deutlich interessanter. |
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Referenzen
Soccer Mommy; Julien Baker; Lucy Dacus; Phoebe Bridgers; Better Oblivion Community Center; Fenne Lily; Samia; Billie Marten; Japanese Breakfast; Torres; Beabadoobee; Claud; (Sandy) Alex G; Jay Som; Hana Vu; Mitski; Vagabon; Julia Jacklin; Clairo; Alice Phoebe Lou; Nilüfer Yanya; Marika Hackman; Jessica Lea Mayfield; Frankie Cosmos; Big Thief; Florist; Adult Mom; Waxahatchee; Hand Habits; Hovvdy; Caroline Says; Lomelda; Porches; Rostam; Cat Power
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