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Tori Amos - Ocean to ocean

Tori Amos- Ocean to ocean

Decca / Universal
VÖ: 29.10.2021

Unsere Bewertung: 8/10

Eure Ø-Bewertung: 7/10

Under the pink is blue

Nein, Tori Amos war danach nur noch selten auf ihrem Niveau der Neunziger. Wie auch, wenn sie dort ihre Karriere mit vier überwältigenden Meisterwerken in Folge begann, die sie noch vor ihrem 35. Geburtstag in den Olymp der besten Songwriter*innen hoben? Doch die späteren zwei Drittel ihres drei Dekaden umspannenden Schaffens trauerten mitnichten nur alten Zeiten hinterher. Gerade die jüngsten zwei Platten "Unrepentant geraldines" und "Native invader"zeigten eine Frau, die ihre stilistisch bunt blühenden Felder noch lange nicht abgegrast hatte. Zweifelsfrei reichen bei Amos oft nur Tasten und Gesang, um die Atmosphäre eines Raums auf den Kopf zu stellen, doch ohne die vielschichtigen und flexiblen Arrangements hätte sie auf ihren Studio-Werken wohl einen weitaus kleineren Eindruck hinterlassen. "Ocean to ocean" führt den kreativen Aufschwung seiner Vorgänger nahtlos fort, weil es sich sogar noch konkreter als Band-Album präsentiert.

Die Virtuosität des Zusammenspiels zeigt sich vor allem im sechsminütigen "Spies" – nach "Reindeer king" und dem grandiosen Titeltrack der "Unrepentant geraldines" wieder ein Longtrack, der das Schlüsselstück der Platte darstellt. Von flirrenden Streichern angestachelt, fügen sich Bass und Drums – diesmal wieder gespielt von Amos' alten Weggefährten Jon Evans und Matt Chamberlain – zu einem rastlosen Pulsschlag zusammen. Die Bandleaderin selbst steuert einen Piano-Loop bei und erzählt eine liebevoll-bekloppte Geschichte von Spionen mit britischem Lokalkolorit samt ein paar Nonsens-Wortspielereien: "That hippopotamus / Must stay anonymous." Melodische Schleifen mit Bläser-Begleitung verhindern ein Abkippen in die Monotonie, ehe die Schlussminute mit Gitarren- und Klavier-Perlen in eine kurze Kate-Bush-Choreinlage leitet und schließlich zur Ruhe kommt. Ein sensationeller Song, man kann es nicht anders sagen.

Nicht nur hier offenbart das Album eine gewisse maritime Textur, die seinen Entstehungskontext spiegelt. Die normalerweise zwischen Florida und Cornwall pendelnde Künstlerin nahm es Lockdown-bedingt nur an letzterem Ort auf, und tatsächlich schmeckt man sofort im sanft wogenden Opener "Addition of light divided" die Küstenluft, sobald die Tasten und akustischen Saiten gegen die Klippen schlagen. Der Klang von "Ocean to ocean" bleibt so warm, füllig und naturnah, ohne in das Fantasy-Pathos eines "Night of hunters" abzugleiten. Natürlich ist der Wellengang inzwischen ein ruhigerer als früher – Tsunami-artige Ausbrüche wie etwa in "Precious things" sind von der 58-Jährigen nicht mehr zu erwarten. Doch eine würdevolle Agilität prägt Amos' Kompositionen noch immer, am deutlichsten wohl herauszuhören im schattigen "29 years", das Strophen mit angedeutetem Reggae-Rhythmus und zitternder Elektrischer in einen sehnsuchtsvollen Pop-Refrain überführt.

So gestalten sich die elf Stücke trotz ihrer homogenen Ästhetik stimmungstechnisch variabel. Das inspiriert voranschreitende "Devil's bane" malt sogar Landschaftsbilder der anderen Atlantikseite, wenn sich die staubtrockene Klampfe mit dezenten Slides und Orgelklängen zur akustischen Prärie formt. Die transkontinentale Zerrissenheit formuliert "Swim to New York State" aus, eine dieser wuchtigen Drama-Balladen, wie sie kaum jemand anderes geschmackvoller hinbekommt. In der Single "Speaking with trees" wählt Amos indes einen erstaunlich luftigen, befreiten Zugang, um den Tod ihrer Mutter zu verarbeiten. Die unter dem Baumhaus verstreute Asche ist hier kein Symbol der Trauer, sondern setzt die Natur als vertrauensvolle Gesprächspartnerin im Angesicht existenzieller Grenzübergänge.

Die letztliche Bewertung von "Ocean to ocean" ist dennoch eine delikate Angelegenheit. Man kommt beim Hören nicht um die Vorstellung herum, wie die frühere Amos mit diesen Themen von Verlust und Isolation umgegangen wäre. Wie sie ihre Emotionen noch entfesselter herausgeschrien und die ruhigsten Momente so mit Intimität und Intensität aufgeladen hätte, dass die Zeit stillsteht. Doch solange sich die entsprechenden Referenzwerke im Bereich von 9/10 bis 10/10 bewegen, lässt sich auch für diese weniger rohe 16. Studioplatte nichts weniger als Meisterwerk-Niveau konstatieren. Alles darunter würde der herausragenden Qualität des Songwritings, der Melodien dieser kaum gealterten Stimme, ihrer Poesie, der organischen Bandchemie und der griffigen Produktion einfach nicht gerecht werden. Tori Amos mag nicht mehr so gut wie in den Neunzigern sein, aber besser als die meisten anderen ist sie immer noch.

(Marvin Tyczkowski)

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Highlights

  • Addition of light divided
  • Devil's bane
  • Spies
  • 29 years

Tracklist

  1. Addition of light divided
  2. Speaking with trees
  3. Devil's bane
  4. Swim to New York State
  5. Spies
  6. Ocean to ocean
  7. Flowers burn to gold
  8. Metal water wood
  9. 29 years
  10. How glass is made
  11. Birthday baby

Gesamtspielzeit: 47:29 min.

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(Neueste fünf Beiträge)
User Beitrag

flow79

Postings: 383

Registriert seit 09.09.2020

2021-11-17 20:05:15 Uhr
Ein sehr gutes Album, wenig bis keine Überraschung, mit vielen trademarks, insgesamt eine echt runde Sache. Scarlets walk ist mir auch immer wieder in den Sinn gekommen, obwohl ich dies Album schon ewig nicht mehr gehört habe. Und die Queen homage in Spies ist zwar kein breakthru, aber sehr nett gemacht.

Kalle

Postings: 344

Registriert seit 12.07.2019

2021-11-17 10:17:04 Uhr
Dass ich mir tatsächlich nochmal ein Tori-Amos-Album in kompletter Länge anhören kann und dieses dann auch noch durchgehend gefällt, hätte ich nicht gedacht. Aber ein wunderbares abwechslungsreiches Album. Top.

Corristo

Postings: 1058

Registriert seit 22.09.2016

2021-10-21 21:30:08 Uhr
Die Rezi spricht es an, ihre vier ersten Alben und ich würde noch Scarlet's Walk hinzufügen, sind unschlagbar. Ein schlechtes Album hat sie trotzdem nie gemacht, aber es war halt meist zwei bis drei Klassen drunter. Aber so ergeht es ja vielen Musikern. Habe mir trotzdem bisher alles von ihr angehört und die Rezi klingt schon mal gut.

Grizzly Adams

Postings: 4521

Registriert seit 22.08.2019

2021-10-20 22:05:42 Uhr
Speaking with the trees klingt erstmal nach einem Bäumeumarmer—Song und ich hab sofort irgendeinen Politiker vor Augen, der sich nicht zu blöde war, sich so ablichten zu lassen…
Aber der Song ist mehr als Ok. Zum Ende gefällt mir vor allem der Refrain in Kombi mit der Mike Oldfield Gedächtnis Gitarre. Ohnehin hör ich da MO raus. Und auch der zweite Song geht klar.
Viel besser produziert mir der natürlich auch gealterten Stimme (und den damit verbundenen Möglichkeiten) als beim neuen Tears for Fears Song.

Armin

Plattentests.de-Chef

Postings: 26212

Registriert seit 08.01.2012

2021-10-20 20:57:58 Uhr - Newsbeitrag
Frisch rezensiert.

Meinungen?
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