Injury Reserve - By the time I get to Phoenix

Self-released
VÖ: 15.09.2021
Unsere Bewertung: 8/10
Eure Ø-Bewertung: 6/10

Über den Untergang
Über Gefühle zu singen, ist einfach. Die hohe Kunst musikalischer Selbstartikulation besteht vielmehr darin, sein Innerstes ohne klare Worte oder Formen unvermittelt spürbar zu machen. Injury Reserve ist genau das gelungen. Das experimentelle HipHop-Trio aus Arizona erfuhr in der zweiten Hälfte der 2010er-Jahre einen zunehmenden Hype in gewissen Online-Communities, ehe der plötzliche Tod von Rapper Stepa J. Groggs ihre weitere Zukunft völlig ins Unklare trieb. Doch das verbliebene Duo um Ritchie With A T und Parker Corey entschied sich dazu, die letzten Aufnahmen mit dem verstorbenen Bandkollegen und Freund ihren Fans nicht vorzuenthalten. Obwohl dieses zweite Album namens "By the time I get to Phoenix" größtenteils vor Groggs' Tod entstand, manifestieren sich darauf vor allem Trauer und die damit einhergehende Desorientierung, ein erratischer Strudel unterschiedlichster Emotionen – geboren vielleicht aus einem Kollektivtrauma, wie es die um drohende Umweltkatastrophen und andere globale Unruhen kreisenden Texte zuweilen nahelegen.
"There's just some things that ain't right", stottert ein hörbar mitgenommener Ritchie im Opener "Outside". Dem losen Strom seiner Gedanken folgend versucht er, sich im Nebel aus Geräuschen und Synths zurechtzufinden, ohne Rhythmus, ohne Flow, ehe dann doch die Drums einsetzen und einen überwältigend kathartischen Dammbruch vertonen. Mit HipHop-Beats haben Coreys Instrumentals nicht mal mehr am äußersten Rand etwas zu tun, es sind abstrakte, radioaktive Noise-Wolken, immer in Bewegung, immer kurz vor der Entladung. "Superman that" zerhackstückelt Black Country, New Roads "Athens, France" zum Glitch-Gitarren-Breakcore und fängt die Brutalität mit einer nahezu absurd melodischen Hook auf. "Ain't no savin' me or you", heißt es da und auch "SS San Francisco" klingt mit seinem unheilvollen Bass-Riff und der Industrial-Schlagseite so, als würden die vier Reiter der Apokalypse in einer Fabrikhalle als Grunge-Band auftreten. Spätestens, wenn das eh schon dystopische "Ground zero" völlig kollabiert, fragt man sich, was nach all den akustischen Weltuntergängen noch kommen soll.
Die Fäden der Aussichtslosigkeit, die einem immer fester die Kehle zuschnüren, halten Injury Reserve dabei stets höchstselbst in der Hand. "There's nowhere to go / You better run and hide", rät Groggs mit zunehmender Panik in "Footwork in a forest fire", dessen Uptempo-Free-Jazz-Percussion auf besorgniserregende Weise zur Ruhe findet. Frühere Fans der Band könnten ob der Abwesenheit von Humor und verkappten Anti-Hits irritiert sein – auf "By the time I get to Phoenix" ordnet sich alles der stickigen Atmosphäre, dem Dampf aus dem brodelnden Kessel von Wut, Angst und Depression unter. Was nicht heißt, dass es überhaupt keine Auflockerung gibt: "Smoke don't clear" klingt wie Death Grips hinter Milchglas, "Wild wild West" verknüpft 5G-Verschwörungstheorien mit der titelgebenden Will-Smith-Gurke und der kosmische Kopfnicker "Postpostpartum" schneidet dem in Flammen stehenden Raum ein palliatives Luftloch.
Zuvor muss man aber noch einen besonders effektiven Körpertreffer einstecken. Der Synth-Loop von "Top picks for you" heult wie ein verwundetes Tier und schafft Ritchie den Platz für seine offenste Trauerbewältigung. Er schnauft, ringt mit sich und erzählt, wie der Streaming-Algorithmus immer noch Vorschläge für seinen toten Freund ausspuckt – einer dieser körperlosen Alltagsmomente, in denen die Präsenz geliebter Menschen noch schmerzhaft nachhallt. Tiefer in die Magengrube drückt nur "Knees", ein Song wie ein in der Zeitschleife gefangener Tusch, in dem Groggs' vielleicht letzte auf Tonträger gebannten Verse über seinen Alkoholismus eine erschütternde neue Bedeutung erhalten: "This last one is my last one, shit / Probably said that about my last one, probably gon' say it about the next two."
Die Platte fährt ihre Radikalität also sicher nicht zum Selbstzweck auf, sondern dient als das eingangs umschriebene unmittelbare Ventil der inneren Erdbeben ihrer Erschaffer. Das Konturlose und Freiförmige macht die Sinnzersetzung des Todes und anderer Katastrophen auf paradox plastische Weise greifbar. In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass "Bye storm", der um ein Sample von Brian Enos "Here come the warm jets" gebaute Closer, ein Gefühl zum Ausdruck bringt, das zuvor nicht zu vernehmen war: Hoffnung. Vielleicht gibt es für Injury Reserve eine Zukunft nach Groggs. Wenn uns die Popkultur mit ihren unzähligen Zombiefilmen und -serien eines gelehrt hat, dann, dass die Apokalypse niemals das Ende ist.
Highlights
- Outside
- Superman that
- Top picks for you
- Knees
Tracklist
- Outside
- Superman that
- SS San Francisco (feat. Zelooperz)
- Footwork in a forest fire
- Ground zero
- Smoke don't clear
- Top picks for you
- Wild wild West
- Postpostpartum
- Knees
- Bye storm
Gesamtspielzeit: 41:14 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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maxlivno Postings: 2949 Registriert seit 25.05.2017 |
2025-04-07 15:31:39 Uhr
"Double Trio 1" war schon herausragend, aber mit "Double Trio 2" haben sie tatsächlich sogar die wildesten Momente der "By The Time I Get To Phoenix" getoppt. Das Album war für mich schon eine 10/10, wenn die beiden das bisherige Niveau halten beim neuen Album wird das einer der einfachsten 10er für mich |
joseon Postings: 963 Registriert seit 04.09.2023 |
2025-04-06 21:12:21 Uhr
Huch, danke für den Hinweis! Davon habe ich ja gar nichts mitbekommen, obwohl ich RiTchie bei Instagram folge. Apropos, der hat letztes Jahr mit "Triple Digits [112]" ein ziemlich feines Soloalbum herausgebracht. |
Watchful_Eye User Postings: 2974 Registriert seit 13.06.2013 |
2025-04-06 16:23:49 Uhr
Verfolgt jemand "By Storm", das Nachfolgeprojekt von Injury Reserve?Sehr jazzig und expertimentell. Bislang gibt es drei Tracks. Kürzlich kam der Track "Double Trio 2" hinzu. Meine größte Hoffnung, dieses Jahr etwas 10/10-artiges zu hören zu kriegen, sehe ich dort. https://www.youtube.com/watch?v=3cWuiT1wtY8 |
maxlivno Postings: 2949 Registriert seit 25.05.2017 |
2021-10-14 07:17:17 Uhr
wirklich tolle Rezension, auch wenn ich gerne die 9 für ein Rapalbum gesehen hätte |
Watchful_Eye User Postings: 2974 Registriert seit 13.06.2013 |
2021-10-13 22:05:51 Uhr
Sehr starkes Album, und übrigens auch gute Rezi @MopedTobias. Bei den Highlights sind wir uns ebenso einig.Ein emotionales Album und auf Soundebene originell. Ich tendiere sogar mittlerweile zur 9. |
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Referenzen
Jpegmafia; Moor Mother; Dos Monos; Ratking; Standing On The Corner; Slauson Malone; Cities Aviv; cLOUDDEAD; Flying Lotus; Pink Siifu; R.A.P. Ferreira; Earl Sweatshirt; Billy Woods; Zelooperz; Mach-Hommy; Lil Ugly Mane; Death Grips; Your Old Droog; Mike; Danny Brown; Clipping.; Shabazz Palaces; Knife Knights; Busdriver; MF Doom; Madvillain; Aphex Twin; Sophie; Arca; Brian Eno; Backxwash; Lonnie Holley; This Heat; Black Midi; Black Country, New Road
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- Injury Reserve - By the time I get to Phoenix (6 Beiträge / Letzter am 07.04.2025 - 15:31 Uhr)