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Sufjan Stevens & Angelo De Augustine - A beginner's mind

Sufjan Stevens & Angelo De Augustine- A beginner's mind

Asthmatic Kitty / Cargo
VÖ: 24.09.2021

Unsere Bewertung: 9/10

Eure Ø-Bewertung: 7/10

Magnificat

Blickt man auf Sufjan Stevens' imposante Diskografie, offenbaren sich zahlreiche Oppositionen und der stetige Impuls, sie miteinander in Kontakt zu bringen. Wohl auch deshalb geriet "The ascension" im vergangenen Jahr zu einem solch sperrigen Koloss, dem zerschossenen Breitwandgemälde einer tief empfundenen Krise: Das Aushalten von Widersprüchen scheint immer weniger Konjunktur zu haben. Seit langem bewegt sich Stevens' Songwriting mühelos zwischen Folkminiaturen und experimenteller Opulenz, pendelt zwischen knarzenden Akustikgitarren und elektronischem Chaos ("The age of adz"), spiritueller ("Seven swans") oder schmerzhaft persönlicher ("Carrie & Lowell") Intimität und der gesellschaftlichen Totalen ("Illinois"). Am Urgrund seiner Explorationen steht jedoch das Geschwisterpaar aus Glaube und Zweifel, unablässig befragt und herausgefordert. In jüngerer Vergangenheit erhöhte sich sein Output, zahlreiche Kollaborationen erkundeten Nebengleise, die Ambitionen wogen womöglich nicht mehr ganz so schwer. Auch "A beginner's mind" präsentiert eine Zusammenarbeit, nachdem Stevens und Labelkollege Angelo De Augustine sich zum gemeinsamen Schreiben trafen. Beiläufig wirkt hingegen nichts an diesem Album: Vielmehr ist es das vielleicht unverhoffteste seiner nicht wenigen Meisterwerke.

Für rund einen Monat wohnten die beiden im ländlichen New York, schauten nachts Filme, die bei Tageslicht und aus der Erinnerung heraus Sprungbretter für Songideen auf folkiger Basis wurden. Die Ähnlichkeit ihrer Stimmen – das klare Falsett De Augustines und das weiche Timbre Stevens' – lässt den symbiotischen Entstehungsprozess noch natürlicher erscheinen. Melodien und Zeilen ergänzen, beantworten und kontrastieren einander, vor allem aber harmonisieren sie betörend, bis es im Laufe der Zeit völlig unerheblich wird, wer nun eigentlich was eingebracht hat. So auch der Titel: Dem buddhistischen Credo des Shoshin folgend, inszeniert er einen unbelasteten Anfang, den Zauber des ersten Mals. Zunächst flirren die Akustikgitarren, bis stilvoll getupfte Instrumente die Palette erweitern und ein wahrer Melodienwirbel entfacht wird. "I would rather be a flower than the ocean", erklären Stevens und De Augustine zwiespältig im famosen Opener "Reach out". Einsam statt Teil des Ganzen zu sein, hieße das, doch sie singen dabei auch das Lob des Kleinen, Zerbrechlichen. Nur um sogleich zurückzurudern: "I would rather be devoured than be broken."

Es ist beinahe unmöglich, einzelne Lieder aus "A beginner's mind" hervorzuheben, da jedes von solch verschlungenen und berührenden Melodien durchzogen ist, einer mysteriösen, tieftraurigen Glückseligkeit, dass sich eine Hierarchie kaum erlaubt. Wenn das elektronische Outro von "Lady Macbeth in chains", aus dessen vorherigen Akkordfolgen Elliott Smith lächelnd herausschaut, überleitet in den groovigen Psych-Pop von "Back to Oz", dann wabert erstmals jene opak schillernde Psychedelik heran, die einen Großteil des Albums durchziehen wird. Oz wird zur Metapher eines doppelten Verlusts: der Unschuld einer Romanze und eines Lebens. Beide schweben mit dem virtuos-entrückten Gitarrensolo davon. Im Kern bleiben die meisten Songs Folknummern, doch erzeugen sanfte Schlagzeuggrooves und lyrische Basslinien eine traumhafte Songwirkung; aus dem Hintergrund werden Melodien interpoliert. In "Pillar of souls" dringt Verstörendes ans Ohr: "To inscribe all the names that I've read in the blood of your knife", singt Stevens und löst die Grenze zwischen Horrorfilm und Höllenvision auf. Und wenn in "Olympus" die Eloquenz der Strophen im Refrain stockt, reicht es bloß noch für das Wesentliche: "There's nothing / How far away / There's no place like home", erklingt in melancholischen Harmonien vor einem abrollenden Klavier und sachtem Gitarrengeflüster.

Im Mittelteil lösen sich die Duette zeitweilig stärker auf, Stevens und De Augustine alternieren erkennbar am Mikro. Letzterem gelingt mit "Murder and crime" ein weiteres von geisterhaften Synth-Streichern umwehtes Folk-Kleinod. Und Stevens verpackt in "It's your own body and mind" einen bittersüßen Indie-Pop-Hit zunächst in der Vierspur-LoFi-Ästhetik des frühen John Darnielle oder Lou Barlow, bevor sich die Produktion ein wenig aufklart. Thematisch variieren beide immer wieder die Ungreifbarkeit von Bedeutung, tanzen um die Sinnfrage wie das Glockenspiel um die ambivalente Erkenntnis im an Simon & Garfunkel erinnernden "Fictional California": "Now that I have survived / The spectacle of my youth." In "Cimmerian shade" wiederum wendet sich ein Charakter metafiktional an "Das Schweigen der Lämmer"-Regisseur Jonathan Demme. Zu allem Überfluss steckt "A beginner's mind" nämlich auch noch voller kreativer und verspielter Erzählungen: Schon die Rekonstruktion der Filmszenen, die als Inspirationsquelle dienten – von Wim Wenders bis zu obskuren Action- und B-Movies – und dann ganz anders kontextualisiert wurden, könnte einen eigenen Essay rechtfertigen. Doch das wäre ein recht technischer Ansatz, um sich einem Album von stellenweise fast unerträglicher Schönheit zu nähern. Mit traumwandlerischer Sensibilität loten seine beiden Protagonisten schwer zu artikulierende Zustände und Fragen aus, gelangen dabei vom Trivialen zur Intensität großer Kunst. Irgendwann liegen auch Blume und Ozean gar nicht mehr weit auseinander: Es braucht nur das richtige Vergrößerungsglas.

(Viktor Fritzenkötter)

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Highlights

  • Back to Oz
  • Olympus
  • Murder and crime
  • It's your own body and mind

Tracklist

  1. Reach out
  2. Lady Macbeth in chains
  3. Back to Oz
  4. The pillar of souls
  5. You give death a bad name
  6. Beginner's mind
  7. Olympus
  8. Murder and crime
  9. (This is) the thing
  10. It's your own body and mind
  11. Lost in the world
  12. Fictional California
  13. Cimmerian shade
  14. Lacrimae

Gesamtspielzeit: 45:27 min.

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User Beitrag

Hierkannmanparken

Postings: 789

Registriert seit 22.10.2021

2022-01-02 23:40:25 Uhr
"Dune—A very long Zara ad. F-"

Nice! :D

hidden

Postings: 425

Registriert seit 22.07.2020

2022-01-02 13:32:41 Uhr
https://www.stereogum.com/2171618/sufjan-stevens-lists-his-favorite-and-least-favorite-albums-of-2021/news/

Sehr geschmackssicher, vor allem bei den least favorites. Bis auf Punkt 7 bin ich da zu 100% bei ihm.

The MACHINA of God

User und Moderator

Postings: 31722

Registriert seit 07.06.2013

2021-10-22 17:18:09 Uhr
Das Cover wächst auch immer mehr, je näher man es ans Gesicht hält.

:D

AliBlaBla

Postings: 4840

Registriert seit 28.06.2020

2021-10-21 12:23:14 Uhr
Das Cover Cover des Jahres für mich!, Platte auch sicher Top Ten würdig...

Obrac

Postings: 2087

Registriert seit 13.06.2013

2021-10-21 09:07:42 Uhr
"The Pillar of souls", "Olympus", "Murder and crime", alles geil. Das Cover wächst auch immer mehr, je näher man es ans Gesicht hält.
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