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Half Waif - Mythopoetics

Half Waif- Mythopoetics

Anti / Indigo
VÖ: 09.07.2021

Unsere Bewertung: 7/10

Eure Ø-Bewertung: 4/10

Sedimente der Selbstreflexion

Alles muss raus. Das Motto von "Mythopoetics" wird schon vom ersten Blick auf den frontalen Ur-Schrei seiner Protagonistin an klar. Nun war Nandi Rose – wie alle wissen, die das unter dem Alias Half Waif veröffentlichte Solo-Werk der gelegentlichen Pinegrove-Keyboarderin verfolgt haben – noch nie dafür bekannt, ihre Gefühle in sich hineinzufressen. Doch auf ihrem fünften Album scheinen die inneren Ventile mit noch viel größerem Nachdruck zu platzen, vielleicht, weil sich nach einer zu weiten Teilen von Isolation geprägten Zeit besonders dicke Sedimente der Selbstreflexion abgelagert haben. "Mythopoetics" entstand komplett während der Corona-Pandemie, erscheint deshalb nur ein gutes Jahr nach "The caretaker" und quillt vor Emotionen geradezu über. Für die Artikulation ihres Innenlebens findet Rose auch musikalisch wieder eine reizvolle Sprache, die sich an vermeintlichen Gegensätzen reibt. Ihr beeindruckender Mezzosopran vollzieht manche theatrale Bewegung, ohne dabei je an Intimität einzubüßen. Ihre Songs bleiben trotz zerhackter Beats und modularer Haken stets zugänglich, minimalistische Synth-Pop-Banger existieren im Einklang mit Piano-Balladen. Was sie eint, ist der gemeinsame Schmerz, für den sie gleichwertige Ausdrucksmittel darstellen.

So leidet die Eröffnungsminiatur "Fabric" nur mit Klavier und Stimme, ehe die Synthie-Seufzer von "Swimmer" einsetzen. "You may not know it / But I am loving you", singt Rose, gerichtet an ein Gegenüber im letzten Alzheimer-Stadium, doch hält sie sich dabei über Wasser. Nach einer knappen Minute blüht der Song mit dringlichen Arpeggios, tanzbarem Rhythmus und großem Refrain auf, wird damit nicht nur zum eindrücklichsten Hit der Platte, sondern bildet auch ihr Selbstbewusstsein im Angesicht der Trauer ab. Es ist vielleicht das größte Kunststück von "Mythopoetics", Momente der Katharsis und der Verletzlichkeit teilweise in einzelnen Tracks zu verschmelzen. "Fortress" spannt sich einen ganz weiten Melodiebogen aufs Dach, nur um im metallischen Percussion-Sturm dennoch zu kollabieren. Das gleichsam unmittelbare "Horse racing" driftet von seinem Dance-Puls und den eingängigen Hooks in ein formlos mäanderndes Schlussdrittel ab. Selbst die zwei direktesten Pop-Nummern des Albums – das sich mehrstimmig aufbäumende "Midnight asks" und "Party's over" mit seinen hallenden Drums – durchziehen mysteriöse Samples und ein unbestimmtes Unbehagen, das sich in ersterem ganz offen äußert: "I don't want to die tonight."

Die ruhigeren Stücke zittern mit ähnlich komplexer Last auf den Schultern. In "Take away the ache" kann sich Rose nicht von einer zerrädernden Beziehung lösen, während industrielle Beat-Bruchstücke an dem ohnehin schon fragilen Elektro-Soul zerren. Die US-Amerikanerin schafft es dabei, selbst den banalsten Alltagssituationen tiefe Bedeutung abzuringen, ohne dass es unfreiwillig komisch wird. So wie einst Kate Bush ein Trauerlied vor ihrer Waschmaschine sang, füllt "Sourdough" das Brotbacken mit Tränen: "I taste his loneliness / In the crust of every loaf." Vor den Synth-Zirkeln und Geister-Vocals von "Orange blossoms" kommt die Protagonistin aufgrund ihrer Verlustängste nicht mehr aus dem Bett, im dramatischen "The apartment" fängt sie das Rauchen an. Doch weil sich Rose all diese Brocken so ungefiltert aus dem Leib schreit, bleibt am Ende nur noch der Blick nach vorn. "It's too late now to start taking it back / So I better be looking forward", heißt es in "Sodium & cigarettes", "The house is gone", konstatiert der wieder nur auf Gesang und Tasten reduzierte Closer "Powder". Rose kommt nach ihren emotionalen Tumulten vorläufig zur Ruhe und die Heilsamkeit dieses Schlusspunkts erreicht das andere Ende der Leitung gleichermaßen. Das Schaffen von Half Waif bleibt ein Testament für die menschlich nahbare Ausdruckskraft elektronischer Musik.

(Marvin Tyczkowski)

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Highlights

  • Swimmer
  • Take away the ache
  • Fortress
  • Horse racing

Tracklist

  1. Fabric
  2. Swimmer
  3. Take away the ache
  4. Fortress
  5. The apartment
  6. Sourdough
  7. Party's over
  8. Horse racing
  9. Orange blossoms
  10. Midnight asks
  11. Sodium & cigarettes
  12. Powder

Gesamtspielzeit: 36:57 min.

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Armin

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2021-07-21 21:13:32 Uhr - Newsbeitrag
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