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Henning Hans - Ich hatte mein Handy hätte man mich gebraucht

Henning Hans- Ich hatte mein Handy hätte man mich gebraucht

Stargazer / The Orchard
VÖ: 18.06.2021

Unsere Bewertung: 8/10

Eure Ø-Bewertung: 6/10

Na endlich

Ein großes Plus des Daseins als Musikrezensent*in: Man bekommt die Platten, die man bespricht, oft schon vor VÖ und damit früher als die meisten anderen. Manchmal sind das ein paar Tage, mal wenige Wochen, mitunter auch mal zwei, drei Monate. Und dann ist da Henning Hans' Debüt mit dem sehr alltagstauglichen Titel "Ich hatte mein Handy hätte man mich gebraucht", das bereits mehr als ein Jahr vor Erscheinungstermin vorlag. Das ist dann doch recht unüblich. Nun, eigentlich sollte das Album bereits 2020 erscheinen, aber Hans fehlte erst ein Label für die bereits fertige Platte und dann die Motivation, sie in Eigenregie zu veröffentlichen. Wie zum Geier konnte das bitte passieren, bei einem solchen Indie-Rock-Album voller Ohrwürmer, das textlich in Richtung maulfauler Gisbert zu Knyphausen geht? Für Plattentests.de war das Album schon im Mai 2020 eine klare 8/10 und irgendwann erkannte man – zum Glück – auch bei Stargazer Records die Güte der Platte. Also erscheint sie nun doch. Besser spät als nie, möchte man sagen.

"Ich hatte mein Handy hätte man mich gebraucht" leitet mit 14-sekündigem Sirenengeheul ein, das den passenden Titel "Hey?" trägt, wie in "Hey, bist du dabei?". Danach legt Hans mit der Akustischen los, ein paar Tasten bauen Spannung auf und schließlich übernimmt die Elektrische die Melodieführung. "Das kannst nur Du verstehen" heißt dieses zweite, zunächst recht gemütlich vor sich hin groovende Stück, das sich im Text bitterböse die übertriebene Prinzessinnenhaftigkeit des Gegenübers vorknüpft: "Dass Dir die Eleganz / Aus jeder Pore tanzt / Wirkt heute noch einstudierter", singt Hans da etwa. Irgendwann kauft sich die besungene Dame ein Schloss und alles, was sie tut, ist fortan "Kunst und sinnhaft und gut." Ein Leben so süß, dass man kotzen möchte. Musikalisch aufsehenerregend ist, wie nach zwei Dritteln die Steigerung mit angeschmissenem Verzerrer und besoffenem Piano ins Geschehen poltert. Trennung ist jedenfalls die logische Folge: "Ich vermisse Deine Wohnung mehr als Dich", lautet dabei die ernüchternde Quintessenz aus "Seit Du weg bist". Da spricht wohl der Alkohol aus Hans, denn der macht, was man nach so einem Verlust eben macht: Trinken bis man endlich glaubt, man sei der Größte. "Ich hab schon vor Jahren alle meine Fehler erkannt", erklärt der Sänger, "Ich hab nichts verloren", redet er sich ein. Sein Mundgeruch entlarvt ihn schließlich, während die Leadgitarre sich hinterhältig im Hörkanal festsetzt.

"Stacheln" fällt nachdenklicher aus, wie schon die gezupfte Gitarre zu Beginn es vermuten lässt. Es geht um Einsamkeit, Gesundheit, Vergangenheit und Zukunft. Nach der Einleitung stürmt eine Elektrische heran, nur um wieder zu verstummen und einem gediegen trabenden Rhythmus Platz zu machen. "Ich hab 'ne Mauer, die schließt Dich aus / Doch kann ich mich daran wärmen", meint der Sänger zunächst. Doch das ist ein Trugschluss, denn: "Gib mir Schnaps und Bier / Und dann wein ich Dir / Wie ein Schlosshund auf die Schuhe." Mit diesem Song endet Trennungsthema erst einmal und Hans widmet sich globalerem, nämlich jenen Erste-Welt-Privilegien, die uns in hiesigen Breitengraden alle betreffen. In "Ode an die Freude" reiht er Begrifflichkeiten wie "Europäische Seegrenze" und "Europäische Schamgrenze" aneinander, bis er im Chorus die bekannte Melodie und den bekannten Text von "An die Freude" übernimmt. Das war's auch schon mit Politik und es geht zurück in den Mikrokosmos. "Anomalie" ist der stärkste Track der Platte. Musikalisch klingt er wie der beste Tomte-Titel, den Tomte nie geschrieben haben (und nie wieder schreiben werden), im deutsch-englischen Refrain darf man besten Gewissens an Ja, Panik denken. Ein paar Streicher machen die Sache rund. "Lag in allem Bedeutung oder nur Melancholie? / War ich grad Mensch oder nur die Kopie?", lautet die großartige zentrale Zeile des Stücks.

"Ein einfacher Mensch" beschreibt einen One-Night-Stand, eine Affäre oder ähnliches. "Unser Gefühl ist Behauptung / Doch die Behauptung macht Lust", fasst Hans das zusammen. Warum sind sie im Bett gelandet? Na, weil sie es können. Schade irgendwie. Die musikalische Szenerie steigert sich im Songverlauf ins immer Bedrohlichere, seufzende Chöre erledigen den Rest. In fröhlicherer Atmosphäre lädt Hans danach auf die "Jüdefelder Straße" im Münsteraner Kuhviertel ein. Der Sänger macht sich über eine kommende Generation von FDP-Wähler*innen lustig: "Halb ersoffenes Jura / Gekränkte Medizin / Große Dringlichkeiten / In Biologie." Schlimm genug, wären die besungenen Personen nicht auch noch Green-Day-Hörer und "Kotze im Zug" braucht auch wirklich niemand. Die unterhaltsam geschilderte Geschichte einer Kleingroßstadtnacht, wie sie viele kennen dürften. "All dieses Stories" trauert wieder der Ex hinterher. Es klingt wie das fröhlichste traurige Lied der Welt, wenn Hans zu sonnigem Gitarrenspiel und flottem Rhythmus verkündet: "Oh Du wärst gern bei ihr." Der Protagonist setzt auf einen "keep it busy"-Ansatz, um zu vergessen, aber, ob das klappt? Die Antwort lautet wie der Titel des Closers: "Vielleicht". Gesamplete Kirchenglocken und ein phänomenaler Breakbeat leiten einen tollen wie ausführlichen Instrumental-Part ein, der nach etwa zur Liedmitte Hans Platz für ein paar Worte macht, um schließlich wieder loszugaloppieren. Ziemlich, ziemlich gut ist das.

So wie das ganze Album. Warum? Weil es von A bis Z greifbar und nachvollziehbar ist, was Hans gerade durchmacht. Weil es dabei augenzwinkernd das elende Selbstmitleid der Millenials und anderer Privilegierter rezitiert. Weil es Melodien auftischt, die einem lange im Ohr bleiben und einfach nicht langweilig werden wollen. Man kann dabei an zu Knyphausen und Koppruch, an Krämer oder auch Frevert und Müller denken, textlich sind weder Tocotronic noch Element Of Crime sehr fern, musikalisch bewegt sich "Ich hatte mein Handy hätte man mich gebraucht" zwischen clean und rotzig. Klar stehen dabei die Gitarren im Vordergrund aber ein paar Synthies oder der Drumcomputer bereichern das Setting immer wieder. Liebe Leser*innen, ihr könnt uns ruhig glauben, schließlich ist diese Rezension wahrscheinlich die am besten vorbereitete aller Zeiten. Bis heute hatte das Album gut 13 Monate Zeit, um schlechter zu werden ... tat es aber nicht. Es wurde wirklich Zeit, dass diese großartige Platte erscheint und endlich alle sie hören können!

(Pascal Bremmer)

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Highlights

  • Seit Du weg bist
  • Anomalie
  • Jüdefelder Straße
  • Vielleicht

Tracklist

  1. Hey?
  2. Das kannst nur Du verstehen
  3. Seit Du weg bist
  4. Stacheln
  5. Ode an die Freude
  6. Anomalie
  7. Ein einfacher Mensch
  8. Jüdefelder Straße
  9. All diese Stories
  10. Vielleicht

Gesamtspielzeit: 35:07 min.

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(Neueste fünf Beiträge)
User Beitrag

henninghans

Postings: 1

Registriert seit 25.03.2024

2024-03-25 12:28:34 Uhr
Für die, die es interessiert: Es gibt seit Freitag eine neue Henning Hans-EP, sie heißt »happy«!

Hier streamen:
https://orcd.co/henning-hans-happy

Tom_Platte

Postings: 2

Registriert seit 26.07.2021

2021-07-28 14:30:06 Uhr
Schade, schade - ich hoffe das wird kein Trend.

Ob der CD-Brenner noch funktioniert...?

Pascal

Mitglied der Plattentests.de-Chefredaktion

Postings: 651

Registriert seit 13.02.2013

2021-07-27 01:32:09 Uhr
Es ist leider ein "digital only" Release, was ich auch sehr schade finde!

Tom_Platte

Postings: 2

Registriert seit 26.07.2021

2021-07-26 16:45:03 Uhr
Ihr habt Probleme...

Ich hab allerdings auch ein ganz praktisches: Wo oder ab wann kann man denn diese Platte auf Scheibe erwerben?

Hat da jemand ne Info, ich find grad nur mp3 und Stream....

jo

Postings: 5675

Registriert seit 13.06.2013

2021-07-09 14:35:28 Uhr
Dass niemand dezidiert auf meine Beuteilungen der "Im Staub"-EP eingeht, liegt fraglos nicht an mir.

Warum? Vielleicht werden damit ja einfach nur andere Meinungen ausgehalten?
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