Japanese Breakfast - Jubilee

Dead Oceans / Cargo
VÖ: 04.06.2021
Unsere Bewertung: 8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10

Glücksfluten
Unter all den emotionalen Katalysatoren des Kunstschaffens ist Schmerz nicht nur der grausamste, sondern auch der fruchtbarste. Nahezu alles, was Michelle Zauner bisher veröffentlichte, seien es die Alben "Psychopomp" und "Soft sounds from another planet" oder ihre Memoiren "Crying at H Mart", kreisten um den Krebstod ihrer Mutter. Doch weil selbst die tiefsten Wunden irgendwann verheilen, zieht die als Japanese Breakfast bekannte Musikerin einen Schlussstrich: Nicht mehr Trauer soll die dritte Platte "Jubilee" vermitteln, sondern Freude. Die dichten Shoegaze- und Noise-Wände der Vorgänger reißt Zauner ein, strahlt stattdessen mit einem selbstbewussten Pop-Entwurf zwischen orchestraler Indie-Grandeur und der Elektro-Sensibilität einer Lorde. Das Sonnengelb des Cover-Artworks bleibt dabei freilich nicht der einzige Farbton, denn der US-Amerikanerin ist nicht weniger als ihr vielschichtigstes und bestes Werk gelungen.
Schon das eröffnende "Paprika" steckt voller Ambiguitäten. Tropische Tupfer und Marsch-artige Drums bilden das perkussive Fundament, auf dem Zauner den Verlust ihrer Inspiration beklagt: "I opened the floodgates and found no water, no current, no river, no rush." Nur, um kurz darauf doch "It's a rush" zu deklarieren, während die Bläser in bester Beirut-Manier alle Dämme brechen lassen – ein Destillat purer Euphorie. "Be sweet" vollzieht im Anschluss die ästhetische Kehrtwende und baut auf seinem markanten Bass-Riff einen astreinen Achtziger-Synth-Funk-Hit, doch das in die Länge gezogene "I want to believe!" klingt gleichermaßen befreiend wie der Opener. Es beeindruckt, wie Zauner nicht nur scheinbar gegensätzliche stilistische Ansätze meistert, sondern sie auch in ein kohärentes Ganzes gießt. Wenn auf dem sanft drängelnden Disco-Beat von "Slide tackle" erst ein Saxofon, dann die ganze Bläser-Front das Ruder übernimmt, schafft sie das sogar in einem einzelnen Song.
Trotz der hellen Oberfläche sind es jedoch Bilder von Leere und Dunkelheit, die letztgenanntes Stück prägen. Die Glücksfluten von "Jubilee" erzielen genau deshalb ihre Wirkung, weil ihre Kehrseite immer präsent ist. Das lustvoll vernebelte "Posing in bondage" entwirft einen kühlen Isolationsraum, in dem das unerwiderte Verlangen nach "closeness" und "proximity" lange nachhallt. "Passing time just popping wheelies", singt Zauner in "Kokomo, IN" in der Rolle einer Kleinstadt-Teenagerin, die sich nach ihrem Crush verzehrt. So herzzerreißend und wundervoll arrangiert wie dieser von Streichern und Slide-Gitarren emporgehobene Akustiktraum gestaltet sich höchstens noch die schwelgerische Tränenzieher-Ballade "Tactics". Der Wavegaze von "Sit" erinnert derweil am ehesten an frühere Japanese-Breakfast-Platten und beweist mit seinen kryptischen Lyrics um Oralsex und Computersprache erneut Zauners Vorliebe für textliche Obskuritäten.
Ähnliches lässt sich über "Savage good boy" sagen: Keine zweieinhalb Minuten braucht dieses Pop-Trampolin, um von einem Milliardär und den Unterwasserfluchtsplänen für seine Familie zu erzählen, inklusive eines schrägen Glam-Solos als Abspann. Zauner packt regelmäßig so viel Inhalt und Emotion in ihre kompakten Kompositionen, dass auch "In hell" zu zerbersten droht, in dem die Protagonistin ihren Hund zu Grabe tragen muss: "I cried and cried and at my signal / They stopped your heart and then you died." Einzig der Closer "Posing for cars" lässt sich auffallend mehr Zeit, nutzt die Hälfte seiner knapp sieben Minuten für einen Instrumentalteil endloser Gitarren-Weiten, die auch ein Adam Granduciel kaum sehnsuchtsvoller hätte zelebrieren können. Es ist die vorerst letzte unter den vielen neuen Farben in Michelle Zauners Kreativspektrum, das erst nach der Überwindung des Schmerzes sein volles Ausmaß zeigt. Wer 2021 nur ein einziges Indie-Pop-Album hören will, wird keine bessere Wahl als "Jubilee" treffen können. Alle anderen sind hier ja eh schon mit drauf.
Highlights
- Paprika
- Be sweet
- Kokomo, IN
- Tactics
Tracklist
- Paprika
- Be sweet
- Kokomo, IN
- Slide tackle
- Posing in bondage
- Sit
- Savage good boy
- In hell
- Tactics
- Posing for cars
Gesamtspielzeit: 37:08 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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Francois Postings: 1242 Registriert seit 26.11.2019 |
2025-01-04 17:22:12 Uhr
Ich habe eben ihren Bestseller „Crying in H Mart“ gelesen und muss sagen, dass ich Michelle Zauner jetzt nur noch mehr in mein Herz geschlossen habe. Kann das Buch empfehlen, obwohl ich eigentlich kein Fan von „Pop Literatur“ bin. Aber das Buch ist ehrlich, authentisch, berührend - und gut geschrieben. Es freut mich, dass sie diesen Schicksalsschlag in derart schöne Kunst verarbeiten konnte. |
saihttam Postings: 2593 Registriert seit 15.06.2013 |
2023-11-06 23:27:59 Uhr
Ich schick noch eine wunderbare Live-Version von Never Have I Ever Walked Away When The Time Was Right hinterher. |
saihttam Postings: 2593 Registriert seit 15.06.2013 |
2023-11-06 23:11:50 Uhr
Hat eigentlich jemand mal in Little Big League, die alte Band von Michelle, reingehört? Gefällt mir überaus gut. Sehr energetische Indierock-Songs mit Emo und Shoegaze-Einschlag. Wunderschöne ineinandergreifende Gitarrenmelodien und Michelles Stimme, die alles zusammenhält. Vor allem das Debüt These Are Good People ist richtig gut. Unbedingte Empfehlung!Lindsey My Very Own You Dark Matter |
nörtz User und News-Scout Postings: 15660 Registriert seit 13.06.2013 |
2023-06-27 20:44:10 Uhr
Die zweite Hälfte von Posing For Cars mit dem Gitarrensolo ist soooo gut... |
saihttam Postings: 2593 Registriert seit 15.06.2013 |
2021-11-24 23:52:31 Uhr
Nee, mich packt das Album leider wieder nicht. Schon sehr gefällig, aber irgendwas fehlt für mich. Der Abschlusstrack ist super, aber sonst fehlen mir vielleicht eingfach diese shoegazigen Gitarren von Psychopomp. Alles nett und schön, aber auch schnell wieder verflogen. Trotzdem schön, dass die Grammys sie berücksichtigen. |
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Referenzen
Bumper; Belle And Sebastian; Beirut; Destroyer; Mitski; Hayley Williams; Weyes Blood; Lorde; The Beach Boys; Camera Obscura; Amber Arcades; Tennis; Emmy The Great; Vagabon; Soccer Mommy; Jay Som; (Sandy) Alex G; Samia; Frankie Cosmos; Carly Rae Jepsen; Paramore; Wild Nothing; Alvvays; The War On Drugs; Warpaint; St. Vincent; Perfume Genius; Kate Bush; Björk; David Byrne; Wilco; Bright Eyes; Okkervil River; Prince; The Cure
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