Lucy Kruger & The Lost Boys - Transit tapes (for women who move furniture around)

Unique / Groove Attack
VÖ: 04.06.2021
Unsere Bewertung: 7/10
Eure Ø-Bewertung: 9/10

Die Reise ins Ich
Verloren zwischen den Welten: Eineinhalb Jahre war die aus Kapstadt stammende Lucy Kruger vor der Entstehung ihrer "Transit tapes" schon in Berlin ansässig und möchte ihre Eingewöhnungsphase in der Hauptstadt nun darauf festhalten. Bereits angekommen in ihrer neuen Heimat ist sie mitnichten, und so ließe sich mutmaßen, bei ihren Lost Boys handele es sich nicht um namenlose Mitmusiker, eine Vampir-Gang aus den Achtzigern oder die ewig junge Gefolgschaft Peter Pans, sondern um Fragmente ihrer selbst. Die Künstlerin, die sich bei den Dreampoppern Medicine Boy sonst hinter einem pralleren Sound verschanzt, verfährt ganz nach dem Motto "Weniger ist mehr", wenn sie ihre eigene Person und individuelle Erfahrungen in den Mittelpunkt ihrer oft skizzenhaften Aufnahmen rückt. Schwermütig und schlaftrunken exerziert Kruger sämtliche Aspekte ihres Verlorenseins durch, besingt Affären, Unterkünfte, den lieben Gott und kleidet alles in abstrahierte, beinahe kryptische Sprachbilder. Die Musik dazu ist entschleunigter Songwriter-Gitarren-Folk mit dumpfer, reduzierter Percussion und mitternächtlicher Grabesstimmung. Kleine optimistische Momente aber haben sich in die Bedrückung gemogelt und sind genauso leise wie alles zuvor. Schweift man als Hörer*in auch nur kurz ab, hat man sie womöglich bald verpasst. Konzentration ist geboten.
Denn die Schönheit liegt, wie so oft, im Detail – etwa, wenn eine Gitarre die einnehmende Melodie des Openers "Braille" paraphrasiert. Parallel zur Unsicherheit ihres lyrischen Ichs sind Krugers Texte oft eher gehaucht als kraftvoll gesungen: "For fear of speaking much too loud / Can you teach me how to shout?" In "A stranger's chest" lässt sie eine knappe Minute dröhnendes Feedback das Zepter halten, wenn ihr selbst die Worte fehlen. Das bluesige "A house" dann macht ihre schlimmsten Befürchtungen wahr: Aus der trauten Zweisamkeit scheint es keinen Ausweg mehr zu geben, erfüllend ist sie allerdings nicht, sich niederlassen doch keine Lösung. "Give me something more", fordert Kruger also in "A ringing", weiß bloß noch nicht, was genau dieses "something" denn sein soll: "A root, a rope, a string, a chord"? Es häufen sich Fragen über Fragen. Antworten liefert Berlin keine.
Näher als am Ende von "A paper boat" oder "A cellar door" kommen Lucy Kruger & The Lost Boys der Entladung nicht, plustern die Instrumentierung auf, ziehen das Tempo an und dann – wieder Stille. "Promised land" lässt sogar nichts außer Ambient-artigem Wabern im Hintergrund zu, wenn Kruger ihre Unschlüssigkeit in Sachen Religion verhandelt. "I've gone out for a walk on the bottom of the ocean floor / There's more to see than from the shore", ist sie sich immerhin in "A cellar door" sicher. Manchmal reicht es, einfach nur den Blickwinkel zu ändern. Wäre das nur nicht so unendlich schwierig. "I am desperate for a change, but I am desperate to feel safe", heißt es in "Tired". Das introspektive Reisetagebuch der Lucy Kruger ist beinahe mehr Poesie als Bandalbum, kratzt mitunter an Spoken Word, kaum noch ein Flüstern, lullt den Hörer ein und unterbricht seinen melancholischen Sog nur selten durch prägnante musikalische Ausrufezeichen.
"Oh mother, how do I choose / When to fasten and when to undo / All these ribbons violet and blue / All these ribbons violent and true." Ihre Hilfeschreie bleiben unbeantwortet, und Unbehagen staut sich auf. So warnt Kruger in "Warm II", sie sei bereits "seconds away from spilling everything": Der schlussendliche Ausbruch kündigt sich drohend an, unheilschwanger und nicht mehr zu verhindern. Doch diese "Transit tapes" werden den großen Knall nicht mehr aufzeichnen. Ob die Lost Boys wirklich, wie in den Liner Notes zu lesen, die männlichen Mitglieder ihrer Begleitband sind – oder doch nur externalisierte Manifestationen Krugers eigener Psyche? Und ob die zaghafte Liebesgeschichte aus "Evening train" noch ein gutes Ende nimmt? Lucy Krugers Reise geht weiter.
Highlights
- Evening train
- A stranger's chest
- Warm II
Tracklist
- Braille
- Evening train
- A stranger's chest
- A house
- The ceiling
- Tired
- A paper boat
- A cellar door
- Promised land
- A ringing
- A window
- Warm II
Gesamtspielzeit: 47:37 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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Klaus Postings: 10989 Registriert seit 22.08.2019 |
2021-06-10 13:27:25 Uhr
Gestern abend durchgehört.Die 7/10 unterschreibe ich so. Die beiden Singles sind ja in den Highlights und es zeigt sich auch warum. Schade, dass sie die lärmenden Passagen nicht viel öfter wagt, das gibt dem Ganzen eine viel speziellere Note. Potential für mehr ist definitiv da. |
Randwer Postings: 3641 Registriert seit 14.05.2014 |
2021-05-28 07:08:27 Uhr
Das Album kommt mal gleich auf die Einkaufsliste.Dank eines Facebookbekannten hatte ich schon einmal ihren Song Heart of Stone ins Herz geschlossen. https://youtu.be/_5iu8Y1Q4Ls Interessant, dass es auch sie inzwischen nach Berlin gezogen hat. |
Klaus Postings: 10989 Registriert seit 22.08.2019 |
2021-05-27 22:45:05 Uhr
Habe eben mal die beiden Singles gehört und das letzte Album. Das ist fantastisch! |
Armin Plattentests.de-Chef Postings: 28845 Registriert seit 08.01.2012 |
2021-05-26 21:06:45 Uhr - Newsbeitrag
Frisch rezensiert. Meinungen? |
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Referenzen
Medicine Boy; Sophie Hunger; Agnes Obel; Nick Cave & The Bad Seeds; Dear Reader; This Is The Kit; Lightning Dust; Sun Kil Moon; Tim Neuhaus; Nick Drake; Emily Jane White; Alice Phoebe Lou; Loney Dear; Torres; Fiona Apple; Sharon Van Etten; Mark Lanegan; Isobel Campbell; Isobel Campbell & Mark Lanegan; Belle & Sebastian; Joan As Police Woman; Jungstötter; Julien Baker; Emma Ruth Rundle; Big Thief; Aldous Harding; Angie McMahon; Anna Ternheim; Cate Le Bon; Adrienne Lenker; Catherine Feeny; Tiny Ruins; Wovenhand; Noah And The Whale; And The Golden Choir; Yann Tiersen; Sufjan Stevens; Chelsea Wolfe; Laura Carbone; Suzan Köcher; Andrea Schroeder; EMA; Lana Del Rey; Bon Iver; Neko Case; Nils Koppruch; The xx; O'Death; Elliott Smith
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