St. Vincent - Daddy's home

Caroline / Universal
VÖ: 14.05.2021
Unsere Bewertung: 7/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10

Unter dem Samt
Wenn nur ein Aspekt das Kunstschaffen Annie Clarks definiert, dann ist es die Undefinierbarkeit. Das Fehlen klarer Einordnungsmuster beginnt bei der als St. Vincent bekannten Frau schon geografisch: geboren in Oklahoma, aufgewachsen in Texas und doch in der ganzen Persona so durch und durch New York, dass es die entsprechende Stadthymne auf "Masseduction" gar nicht gebraucht hätte. Wenn sie mit der Single "Pay your way in pain" nun David Bowies "Fame" durch den Fleischwolf dreht, sich durch an allen Ecken ausfransenden Synth-Funk windet und damit ihren Sound völlig auf den Kopf stellt, ist das aufs zweite Überlegen weniger überraschend als auf erste Ohr. "I went to the store, I was feelin' kinda hungry / But I didn't have the money and the shelves were all empty" – ein Meta-Kommentar auf die Gier der rastlosen Künstlerin, die in ihrem unstillbaren Hunger nach neuen Einflüssen nur noch bei den längst abgegrasten Feldern der Vergangenheit landet?
Mitnichten, steckt hinter dem Retro-Gestus von Clarks sechstem Album "Daddy's home" eine ganz persönliche Motivation. Tatsächlich ist dessen Titel wörtlich zu verstehen: Ende 2019 kam der für Aktienmarktmanipulation verurteilte Papa Clark aus dem Gefängnis frei, was seine Tochter zu seinen Lieblingsplatten der frühen Siebziger zurückführte, die er ihr als Kind immer vorspielte. Eine seltsam intime Hintergrundgeschichte für eine Frau, über deren Privatleben man zuvor kaum mehr wusste, als dass sie mal mit Cara Delevingne zusammen war. Nachdem – trotz aller Klasse von Meisterwerken wie "Actor" oder "Strange mercy" – stets eine Kunsthallen-Distanz ihren Noise-Art-Pop durchzog, tritt sie nun also aus dem Glaskasten und gibt ihr Innerstes ungefiltert der Öffentlichkeit frei. Könnte man denken.
So simpel ist es wie so oft nicht. Clark zieht auf der Platte ein kleines Konzept-Panorama über das New York vor 50 Jahren hoch, das sie mit diversen Charakterdetails anreichert. Wie viel von der 38-Jährigen selbst in der Protagonistin besagten "Pay your way in pain" steckt, die Spielplatz-Müttern Angst einjagt und von ihrem "baby" auf die Straße gesetzt wird, bleibt diffus. Klar ist, was die neue Vintage-Soul-Ästhetik mit ihren Bläsern, Wurlitzer-Pianos und Background-Sängerinnen für die sonst immer zwischen Zärtlichkeit und Angriffslust pendelnde Polarität der Musik bedeutet. Abgesehen von jenem Opener und dem späteren Kurzschluss-Groover "Down" darf sich der hörende Körper in eher zurückhaltende Rhythmen fallenlassen. Wer den Vorgänger als zu grell und quietschig empfand, bekommt das bisher ruhigste St.-Vincent-Album als Ausgleich spendiert.
Was natürlich nicht heißt, dass "Daddy's home" je in seichtes Easy Listening abdriftet. Abseits eines Ausbruchs mit heulenden Saiten geht "The melting of the sun" als verstrahlte, aber anschmiegsame Gospel-Ballade durch, versteckt unter dem Samt jedoch die Abgründe der Popkultur: "My Marilyn shot her heroin / 'Hell', she said, 'It's better than abuse.'" Die Nahbarkeit, die der Hintergrund des Albums nahelegt, äußert sich weniger in konkreten Textstellen und mehr in der abstrakten Wärme der Klänge. Doch auch Produktion und Arrangements versehen Clark und ihr erneuter Kollaborateur Jack Antonoff – der gefühlt an jeder relevanten Pop-Platte der letzten fünf Jahre beteiligt war – mit allerlei Schnörkeln, bis ein musikalisch wie inhaltlich komplexes, nur schwer zu durchschauendes Gesamtwerk entsteht.
Da taucht etwa eine torkelnde Gestalt mit einer ganzen Apotheke in der Gucci-Handtasche "at the holiday party" auf, während sich der fast gleichnamige Song vom akustischen Pool-Nickerchen zur Straßenfete aufschwingt. An anderer Stelle lässt die sicher nicht klinisch verabreichte Narkose von "The laughing man" jeden Filmnerd aufhorchen: "Like the heroines of Cassavetes / I'm underneath the influence daily." Das Saxofon-Drama "My baby wants a baby" erzählt derweil eine Geschichte, die das New York der Siebziger nicht exklusiv kennt: "You make a home, I run away and the story starts again." Hinter all dem glitzernd-verdrogten Theater bleibt Clarks mysteriöse Aura ungerührt. Einzig der in Zeitlupe schmelzende Titeltrack lässt sich mit seiner Szenerie von Autogrammstunden im Gefängniswarteraum eindeutig seiner Erschafferin zuordnen – und liefert so, ob gewollt oder nicht, ein passendes Bild für deren künstlerische Getriebenheit: "Where can you run when the outlaw's inside you?"
Die Grammy-Gewinnerin ist schließlich im Herzen noch immer eine Rebellin, auch wenn ihre wilden Gitarren-Eskapaden endgültig der Vergangenheit angehören. Stattdessen spielt sie nun eine auf der ganzen Platte präsente E-Sitar, die vor allem das größte Highlight "Down and out downtown" bereichert. Clarks Songwriting mag nicht mehr ganz so zwingend wie früher erscheinen, doch es fasziniert und beeindruckt, wie konsequent sie auf "Daddy's home" einen vielschichtig realisierten Kosmos erschafft. Ihre undefinierbare Identität gewinnt eine neue Facette und fast wirkt es so, als hätte die Künstlerin selbst die Kontrolle darüber verloren. Über den Großteil seiner sechseinhalb Minuten scheint "Live in the dream" auf Nebelschwaden der sterbenden Sonne entgegen zu gleiten, doch die Supernova, die sich im gleißenden Finale entlädt, ist aus dem eigenen Inneren heraus gewachsen. "I can't live in the dream / The dream lives in me."
Highlights
- Down and out downtown
- Live in the dream
- Down
Tracklist
- Pay your way in pain
- Down and out downtown
- Daddy's home
- Live in the dream
- The melting of the sun
- Humming (Interlude 1)
- The laughing man
- Down
- Humming (Interlude 2)
- Somebody like me
- My baby wants a baby
- ...At the holiday party
- Candy darling
- Humming (Interlude 3)
Gesamtspielzeit: 43:09 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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MopedTobias (Marvin) Mitglied der Plattentests.de-Schlussredaktion Postings: 20158 Registriert seit 10.09.2013 |
2024-04-20 19:35:02 Uhr
Für mich ist das ziemlich klar ihre "schwächste", was bei der Diskografie aber nichts heißt. Die 7/10 würde ich heute immer noch geben. "Actor" und "Strange mercy" schweben in ganz anderen Sphären. |
fuzzmyass Postings: 18042 Registriert seit 21.08.2019 |
2024-04-20 18:03:25 Uhr
Daddy's Home find ich ganz gut, aber meine Favoriten sind die Selbstbetitelte und Masseduction |
The MACHINA of God User und Moderator Postings: 34197 Registriert seit 07.06.2013 |
2024-04-20 17:57:02 Uhr
Hat sich bei mir auch zu ihrem Liebling zusammen mit dem selbstbetitelten gemuasert. Tolles Album. |
Kojiro Postings: 4211 Registriert seit 26.12.2018 |
2024-04-20 17:55:25 Uhr
dito!Wenn die Qualität der Singles nur annähernd erreicht wird, wird's ziemlich fabelhaft. |
fuzzmyass Postings: 18042 Registriert seit 21.08.2019 |
2024-04-20 17:49:02 Uhr
Freu mich schon sehr auf das neue Album |
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Referenzen
U.S. Girls; Prince; David Bowie; Gladys Knight; Betty Davis; Sheena Easton; Diana Ross; Stevie Wonder; Donny Hathaway; Marvin Gaye; Lou Reed; Beck; Tune-Yards; Thao & The Get Down Stay Down; Dirty Projectors; Julia Stone; Kate Bush; My Brightest Diamond; Anna Calvi; Perfume Genius; Joan As Police Woman; Goldfrapp; Christine And The Queens; Talking Heads; David Byrne; Janelle Monáe; Childish Gambino; Genesis Owusu; D'Angelo And The Vanguard; Dua Lipa; Haim; Kimbra; ABBA; Pink Floyd; Arcade Fire
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