Matthew E. White & Lonnie Holley - Broken mirror: A selfie reflection

Spacebomb / Cargo
VÖ: 09.04.2021
Unsere Bewertung: 7/10
Eure Ø-Bewertung: 9/10

White's noise
Wenn Matthew E. White für eines nicht bekannt ist, dann für Krach. Im Laufe der 2010er-Jahre hat sich der in Virginia ansässige Mann mit dem Kaminfeuer-Bariton einen Namen als Konservator des klassischen Big-Band-Americana-Soul gemacht – nicht nur mit zwei eigenen Alben, sondern auch mit seinem Spacebomb-Label, dessen hauseigene Band etwa Natalie Prass begleitete. Doch weil ihm und seinen am Jazz geschulten Musikern mehr Experimentierdrang unter den Nägeln brannte, nahmen sie auch einige instrumentale, ausufernde Kompositionen im Geiste von Miles Davis' Fusion-Phase auf. Zu gewagt für Whites dritte Studio-Platte, lagen sie erst in der Schublade, ehe Lonnie Holley, eine weitere hochinteressante Figur der alternativen US-Soul-Szene, dazustieß: ein mit objets trouvés ("gefundene Objekte") arbeitender Skulpteur, der mit über 60 Jahren noch eine Musikerkarriere begann und sein entbehrungsreiches Leben im radikalen Meisterwerk "MITH" kanalisierte. Ohne sie vorher komplett anzuhören, improvisierte Holley seinen typischen assoziativen Sprechgesang über fünf der zuvor namenlosen Stücke und so entstand "Broken mirror: A selfie reflection" wie in einem einzelnen, zeit- und raumversetzten Take.
Das Resultat arbeitet zwar mit Dissonanzen und freien Strukturen, ordnet diese aber stets repetitiv-rauschhaften Rhythmen unter. Nervöse Percussion, abgehackte Gitarren und erratische Orgelklänge verdichten sich im Opener "This here jungle of moderness" zu einem lebendigen, in alle Richtungen wachsenden Gestrüpp. Ein geschäftiger Bass versucht, die Wucherungen in Zaum zu halten, während Holley seinem Erstaunen über das "age of technology" Luft verschafft. Ist das Free-Funk? Kraut-Jazz? Wie auch immer man diese Art von Musik nennt, lässt sie einem im Grunde nur zwei Möglichkeiten: Fallenlassen in die Trance der Bewegung oder Kopfschmerzen, wenn man sich dagegen sträubt. Der Quasi-Titeltrack "Broken mirror (A selfie reflection)" macht einem die erste Option leicht, indem er seinem synthetisch-organischen Arrangement einen handfesten Groove abringt, der über die ganzen zehn Minuten trägt. Holleys Texte können bei genauerer Betrachtung nicht ganz mit der akustischen Intensität mithalten, vermitteln ihre Digitalisierungs-Skepsis nicht allzu geistreich. Sein von Sklaverei und modernem Rassismus gespeister Leidensgesang auf "MITH" wirkte um einiges eindrücklicher als diese etwas plumpen Auslassungen über Instagram und Handy-Sucht.
Doch es spielt eh keine große Rolle, was der inzwischen 71-Jährige genau vorträgt. Wichtiger sind die abstrakten Emotionen seiner kehligen Beschwörungen und die Symbiosen, die sie mit der Musik eingehen. Tribal-Drums und verzerrte Bässe begleiten den trockenen Beginn von "I cried space dust", bis sich über kosmischen Synths auch die Vocals wie Sternenschauer überlappen. "I'm not tripping" hämmert immer dringlicher werdende, elektronische Afrobeats in den Boden, denen Holley am Ende unzusammenhängende Schlagwörter wie "Megabyte" entgegensetzt. Das finale "Get up! Come walk with me" fordert zum entspannteren Kopfnicken auf, auch wenn an seinen Rändern Glockenspiele und andere unheilvolle Geräusche nagen. Es sollte kein Zweifel daran bestehen: Trotz seiner Rhythmusbetonung ist dieses Kollabo-Album für Pop- und Rock-Ohren sackschwere Kost, die einen offenen Geist für Atonalität und Improvisation voraussetzt. Doch wer sich darauf einlassen kann, erfährt eine einzigartige, kinetische Hypnose, die mit nicht einmal 40 Minuten vorbei ist, bevor sie doch anzustrengen droht. Holley baut damit die Faszination hinter seiner Künstlerperson weiter aus, während White aus dem Korsett der Erwartungshaltung bricht. Der warme Wohlklang, für den der Spacebomb-Chef mit Haut und Haaren stand, erscheint plötzlich ganz weit weg.
Highlights
- Broken mirror (A selfie reflection) / Composition 9
- I'm not tripping / Composition 8
Tracklist
- This here jungle of moderness / Composition 14
- Broken mirror (A selfie reflection) / Composition 9
- I cried space dust / Composition 12
- I'm not tripping / Composition 8
- Get up! Come walk with me / Composition 7
Gesamtspielzeit: 38:44 min.
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edegeiler Postings: 3151 Registriert seit 02.04.2014 |
2022-04-28 11:45:25 Uhr
Für die Plattentest-Leser (also auch für mich) das zweitbeste Album, das jemals produziert wurde. |
Armin Plattentests.de-Chef Postings: 28503 Registriert seit 08.01.2012 |
2021-05-05 21:12:53 Uhr - Newsbeitrag
Frisch rezensiert. Meinungen? |
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Referenzen
Lonnie Holley; Gil Scott-Heron; Alan Vega; Miles Davis; Herbie Hancock; Ornette Coleman; John Coltrane; Alice Coltrane; Sun Ra; Shabaka And The Ancestors; The Comet Is Coming; Sons Of Kemet; Rob Mazurek; Ben Lamar Gay; Jaga Jazzist; The Necks; Horse Lords; Angel Bat Dawid; D'Angelo And The Vanguard; Talking Heads; David Byrne; John McLaughlin; Captain Beefheart; Frank Zappa; Richard Swift; Greg Fox; Alabaster Deplume; Albert Ayler; Quin Kirchner; Cluster; Throbbing Gristle; Aphex Twin; U.S. Girls; Fight The Big Bull; Matthew E. White
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- Matthew E. White & Lonnie Holley - Broken mirror: A selfie reflection (2 Beiträge / Letzter am 28.04.2022 - 11:45 Uhr)