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Big | Brave - Vital

Big | Brave- Vital

Southern Lord / Cargo
VÖ: 23.04.2021

Unsere Bewertung: 8/10

Eure Ø-Bewertung: 7/10

Körperkatastrophen

Was macht eigentlich gutes Songwriting aus? Ein nachvollziehbarer Aufbau, genügend Distinktion zwischen Strophe, Refrain und Bridge und natürlich eine wiedererkennbare Melodie? Dazu bitte keine Redundanzen und auf Albumlänge ordentlich Abwechslung zwischen ruhigen und schnelleren Stücken? Zum Glück gibt es Künstler*innen, ja ganze Genres auf der Welt, die das starre Beharren auf die Formeln der Pop-Akademie regelmäßig als Engstirnigkeit entlarven. Die Musik des kanadischen Post-Metal-Trios Big | Brave besteht im Grunde nur aus Feedback-Fluten, die auf längst vergessene Schlagzeug-Ruinen treffen und sie mit gemächlicher Repetition vor sich hertreiben. Darin schwimmt eine Wasserschlange namens Robin Wattie, beißt zu, reckt sich empor und verweigert in ihrem extrovertierten Klargesang jede Tonfolge, die sich nach ihrem Verstummen noch mitsummen ließe. Doch wenn man die nötige Zeit und Ruhe einräumt, wird "Vital" seinem Titel mehr als gerecht. Das bereits fünfte Album des Dreiers aus Montreal enthält Musik in ihrer körperlichsten Form, die mit einer so unmittelbaren Wucht in die Eingeweide drückt, dass ihre radikalen Strukturen nicht zum Selbstzweck verkommen.

So schwerfällig wie eine Kontinentalplatte schreiten Big | Brave voran, aber sie bewegen sich. Mit der Unaufhaltsamkeit der Gezeiten walzt das eröffnende "Abating the incarnation of matter" durch die Landschaft, lässt sich von Wellenbrechern nur ausbremsen, um noch heftiger zurückzukommen: Über den immer verzweifelteren Schreien Watties scheinen Gitarren und Drums nach einem kurzen Moment totaler Stille eine Dammexplosion zu vertonen. Solche knochigen Überreste einer Start-Stopp-Struktur nutzt die Platte regelmäßig, um ihrer Monotonie unkonventionelle, aber wirksame Spannungsbögen abzuringen. Krachende Saiten sprengen in "Half breed" Platz für Acapella-Passagen frei, bis ein entfesselter Instrumental-Part samt ominösen Glockenschlägen jede Lücke füllt. Lässt man sich völlig in die von der Band erzeugten Strudel fallen, erlebt man einen physischen Kontrollverlust. Man erwischt sich bei ungelenken Arm- und Beinbewegungen, um die direkt ins Körperinnere strömenden Energien wieder freizusetzen. Da taugt ein Track wie "Wited, still and all…" schon als Ruhepol, obwohl dessen Ödnis aus Geräuschen und Geisterstimmen jeden Horrorfilmkomponisten in die Arme seiner Mama treiben würde.

Willkommen ist dieses atmosphärische Zwischenstück dennoch, da sich vor dem folgenden Brocken alle Organe erstmal wieder geraderücken müssen. "Of this ilk" rollt zunächst mit dem gewohnten Druck vorwärts, entwickelt nach sechs Minuten jedoch eine solche akustische Urgewalt, dass sich der Song problemlos als Metapher für Naturkatastrophen aller Couleur nutzen ließe – wenn das nicht die intensivsten 60 Sekunden des Musikjahres sein sollen, wird 2021 ein verdammt intensives Musikjahr. Klar, dass Wattie, Gitarrist Mathieu Ball und Drummerin Tasy Hudson danach kurz verschnaufen müssen. Und nur noch den Titeltrack hinterherschicken, der etwas weniger brachiale Begleitung in seinen Leidensgesang bettet und der Elektrischen selbst im finalen Gewitter ein paar Luftlöcher gönnt. Im Grunde lässt sich ein Album wie "Vital" nur mit 5/10 oder 8/10 aufwärts bewerten: Entweder ziehen diese in schleppende Bewegung versetzten Land- und Wassermassen an einem vorbei oder man stellt sich ihnen in den Weg und wird erbarmungslos mitgerissen. Von ohnehin schon wackligen Konstrukten wie irgendwelchen Theorien über gelungenes Songwriting bleiben am Ende nur noch Trümmer übrig.

(Marvin Tyczkowski)

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Highlights

  • Abating the incarnation of matter
  • Of this ilk

Tracklist

  1. Abating the incarnation of matter
  2. Half breed
  3. Wited, still and all...
  4. Of this ilk
  5. Vital

Gesamtspielzeit: 38:39 min.

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User Beitrag

Randwer

Postings: 2743

Registriert seit 14.05.2014

2021-04-30 17:07:18 Uhr
Die CD ist endlich eingetroffen. Auf die Vorfreude folgt der Genuss des klingenden Werkes.
Fazit: wie erwartet - überwältigend.
^^

Randwer

Postings: 2743

Registriert seit 14.05.2014

2021-04-21 09:44:31 Uhr
Ich bin immer froh, wenn ein Künstlerinterview die positiven Erwartungen bestätigt. Erfrischend unkompliziert, uneitel und geerdet, oder wie man gemeinhin zu sagen pflegt: authentisch.

Randwer

Postings: 2743

Registriert seit 14.05.2014

2021-04-17 11:21:41 Uhr
Danke für den Hinweis auf das Interview, @u.v.o. :).

u.x.o.

Postings: 510

Registriert seit 29.08.2019

2021-04-17 09:56:23 Uhr
Das neue Video zu "Of this ilk" gibt es auf der Roadburn Redux Seite zu sehen. Der Song ist in der Rezi ja schon gut beschrieben worden, auch ich war nach dem ersten Hören geplättet. Grandios! Das macht richtig Lust auf kommenden Freitag.

Auf der Roadburn Seite gibt es übrigens auch ein 30-minütiges q&a mit Robin und Tasy. Man erfährt ein paar Hintergründe zur Entstehung von Vital, den Songwritingprozess der Band und wie sich dieser durch den Drummer*Innenwechsel verändert hat. Außerdem spricht Robin über Rassismus und wie sich ihre Erfahrungen in der Platte widerspiegeln.

MartinS

Plattentests.de-Mitarbeiter

Postings: 1395

Registriert seit 31.10.2013

2021-04-15 22:04:03 Uhr
Ich stelle in letzter Zeit fest, dass mich "harte Musik" irgendwie immer weniger wirklich langfristig fesselt, aber hier werde ich, nachdem ich in "Half breed" reingehört habe, mal genauer hinhören.
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