Floating Points, Pharoah Sanders & The London Symphony Orchestra - Promises

Luaka Bop / Indigo
VÖ: 26.03.2021
Unsere Bewertung: 8/10
Eure Ø-Bewertung: 8/10

Geometrie und Gefühl
Es gibt Kollaborationen, von denen man sich inständig wünscht, sie würden einmal passieren – in der völligen Gewissheit, dass dann zusammenkäme, was zusammengehört. Meist bleibt es beim Flirt mit dem Konjunktiv und wohl oft auch aus gutem Grund: Zwischen Ideal und Wirklichkeit ist schließlich viel Platz. Kaum ein Genre zelebriert jedoch die Lust am musikalischen Gespräch, an Reibung und Harmonie, so sehr wie der Jazz, der immer wieder das komplexe Verhältnis von Solist und Kollektiv ausloten muss. Ganz in diesem Geiste initiierte das Label Luaka Bop – einst von einem gewissen David Byrne ins Leben gerufen, der sich ja seit jeher gerne der Überwindung von stilistischen und geographischen Grenzen widmet – 2015 eine Zusammenarbeit, die schon auf dem Papier schillert. Auf der einen Seite Sam Shepherd, der als Floating Points komplexe elektronische Klänge zwischen IDM, Ambient und Neoklassik entwickelt, auf der anderen Pharoah Sanders, seit über fünfzig Jahren einer der exponiertesten Vertreter des Avantgarde-Jazz. Während Shepherd seine Tracks mit analytischer, beinahe geometrischer Genauigkeit produziert, führen Sanders' Erkundungen häufig über die Schranken der Vernunft hinaus. Schon im Umfeld von Alice und John Coltrane war sein Tenorsaxofon von einer spirituellen Kraft getragen, die bis tief hinein in den menschlichen Körper vibrierte. Fünf Jahre hat es gedauert, nun liegt endlich das gemeinsame Ergebnis des jungen Engländers mit enzyklopädischem Musikwissen und des inzwischen 80-jährigen Sanders vor.
Zwei ganz unterschiedliche Arten von Virtuosität treffen also auf "Promises" aufeinander, einer 45-minütigen Komposition Shepherds in neun Abschnitten, die immer wieder freie, improvisatorische Passagen zulässt und in jedem Fall am Stück gehört werden sollte. Nach der Session mit Sanders kontaktierte Shepherd zudem The London Symphony Orchestra, das anschließend seine Streicherarrangements einspielte. Viele Versprechen schon im Titel – werden sie eingelöst? Und wie! Funkelnde Klavier- und Synthieakkorde eröffnen das erste "Movement", sie werden in verschiedenen Variationen das Rückgrat des gesamten Albums bilden. Bereits nach eineinhalb Minuten stößt Sanders mit dezentem, lyrischem Spiel in ihren Zwischenraum, der nach und nach von abperlenden Noten Shepherds gefüllt wird. Streicher wehen als kosmisches Hintergrundrauschen aus der Ferne herein. Von hier an schwillt "Promises" immer wieder an und ab und pulsiert so natürlich, dass sich schon bald ein Gefühl von Schwerelosigkeit einstellt. Sogar die menschliche Stimme wird kurz Teil des Ensembles, wenn Sanders im vierten "Movement" sonor brummt und brabbelt, sich dabei aber zugleich außerhalb klar artikulierter Sprache positioniert.
Immer wieder verdichtet sich das Album zu Momenten überwältigender Schönheit, ohne den Eindruck eines rätselhaft unbestimmten Raums in seinem Zentrum gänzlich zu überwinden. Das fünfte und siebte "Movement" gehören Sanders, der einerseits mit überblasenen Noten und wilden Arpeggien, andererseits mit erschöpft gehauchten Melodien eine ergreifende Intensität vermittelt. Stellenweise hält das Chaos Einzug, hebelt die Effekte von Shepherds Hypnose aber nie gänzlich aus. Im sechsten Teil wiederum bauen sich die Streicher erhaben auf, bannen den Hörer mit ihrer Melancholie, bis sie als schrilles Crescendo vergehen müssen. Shepherd umspielt diese Bewegungen durchgehend mit perfekter Zurückhaltung auf seinem Rhodes Piano und der glockenspielähnlichen Celesta, bisweilen dröhnen und zwitschern seine Synthies aber auch bedrohlich. Die Wertschätzung für den Raum zwischen den Noten, die Dynamik von Leere und Stille, knüpft dabei den roten Faden zwischen allen Beteiligten, deren gegenseitiger Respekt stets durchscheint. Sanders' Saxofon sei ein "Megafon der Seele", bemerkte Shepherd nach den Aufnahmen, beeindruckt davon, wie Atem unmittelbar zu Klang werden kann. Womöglich ist Sanders auch genau der Faktor, der "Promises" von einem spannenden Experiment zu einem Glanzstück kontemplativer, subtiler Musik erhebt: Er schreibt den gewohnt brillanten Vermessungen Shepherds die Demut vor dem Unbegreiflichen ein, die kompromisslose Überzeugung, dass es eine Sprache jenseits der Wörter gibt.
Highlights
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Tracklist
- Movement 1
- Movement 2
- Movement 3
- Movement 4
- Movement 5
- Movement 6
- Movement 7
- Movement 8
- Movement 9
Gesamtspielzeit: 45:12 min.
Album/Rezension im Forum kommentieren
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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Old Nobody User und News-Scout Postings: 3986 Registriert seit 14.03.2017 |
2021-12-17 23:37:07 Uhr
Find den Vergleich zu Manuel Göttschings E2 E4 sehr passend.Das Haupt-Thema zieht sich durch das ganze Album und wirkt so wie ein einziges Stück. Die Bezeichnung medidativ greift mir dabei eigentlich zu kurz weil ich das dafür zu berührend finde,ich tauche mehr ein und höre es bewusst und aktiv,während ich medidativ eher passiv verstehe.Wobei das dennoch was von reingesogen werden hat. Absolut spannendes Projekt.Hab ich auch in meinen Top 5 Alben des Jahres,war meine Nummer 2 hinter Notwist |
kingsuede Postings: 4527 Registriert seit 15.05.2013 |
2021-12-17 23:15:09 Uhr
Aber für mich ist es ein Album der verschenkten Möglichkeiten, weil sich sklavisch an das enge Korsett des Motivs gehalten wird. Weil es nach kurzer Zeit immer wieder darauf zurückkommt, verliert es für mich den Reiz.Das macht für mich gerade den Reiz des Albums aus! |
fitzkrawallo Postings: 1658 Registriert seit 13.06.2013 |
2021-12-17 08:53:36 Uhr
Ja, ist auch bei The Wire als Alibi-Jazzalbum auf Platz 3. |
captain kidd Postings: 3751 Registriert seit 13.06.2013 |
2021-12-17 08:41:36 Uhr
@ VelvetDas ist halt wirklich "dieses eine Jazz-Album" in der Bestenliste. Und dann vielleicht noch die Sons of Kemet. Das sagt natürlich nichts über das Album aus, sondern eher, über den Listen-Ersteller... Ich finde das Album ja auch nicht schlecht. Aber für mich ist es ein Album der verschenkten Möglichkeiten, weil sich sklavisch an das enge Korsett des Motivs gehalten wird. Weil es nach kurzer Zeit immer wieder darauf zurückkommt, verliert es für mich den Reiz. |
Loketrourak Postings: 2704 Registriert seit 26.06.2013 |
2021-12-16 23:43:40 Uhr
Gerade das meditative, fließende sagt mir zu (und ich bin sonst gar nicht so). So ein bisschen wie e2-e4 von Göttsching. Natürlich anderes Genre, aber selbe Idee. Kein expressives Improgetue, Variation über ein Thema, toll. |
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Referenzen
John Coltrane; Alice Coltrane; Sun Ra; Miles Davis; Archie Shepp; Eric Dolphy; Charles Mingus; Ornette Coleman; Albert Ayler; Charlie Haden; McCoy Tyner; Nils Petter Molvaer; Portico Quartet; Olafur Eliasson; Godspeed You! Black Emperor; Sigur Ros; Talk Talk; Mark Hollis; King Crimson; Jonny Greenwood; David Byrne; Brian Eno; Aphex Twin; Bonobo; Four Tet; Caribou; Joy Orbison; Bill Evans; Keith Jarrett; Claude Débussy; Erik Satie
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- Floating Points, Pharoah Sanders & The London Symphony Orchestra - Promises (29 Beiträge / Letzter am 17.12.2021 - 23:37 Uhr)