Fire! - Defeat

Rune Grammofon / Cargo
VÖ: 12.02.2021
Unsere Bewertung: 7/10
Eure Ø-Bewertung: 8/10

Free the Jazz
Seit mittlerweile 30 Jahren sorgt Mats Gustafsson dafür, dass der Jazz laut, sperrig und ungemütlich, sprich herausfordernd bleibt. Ganz in Peter Brötzmanns Sinne bläst sich der Schwede auf seinen vielen und vielfältigen Projekten die Seele aus dem Leib und lässt dabei nichts anbrennen, als wäre die jeweilige Session die letzte seiner Karriere. Das neue Album "Defeat" ist zwar keine Abkehr von seinem bewährten Saxofon-Lärm, bricht aber dennoch mit ein paar Trademarks seiner Spielweise. Fire! Ist die Basis für das bekanntere Fire! Orchestra – die vielleicht ambitionierteste Big-Band-Gruppe der letzten zehn Jahre. Bei beiden Projekten spielen Gustafsson (Saxofon), Johan Berthling (Bass) und Andreas Werliin (Drums) zusammen. Nur, dass das Trio hier weitgehend ohne die Gastauftritte und den Breitwand-Sound des Orchestras auskommt, sich aufs Wesentliche fokussiert: Groove, Repetition und Variation durch Improvisation.
"A random belt rats you out" eröffnet das Album in überraschender Weise. Statt überstrapaziertem, kreischendem Saxophon ertönen eher sanfte, wenn auch wilde Querflöten-Klänge. Doch wäre Mats Gustafsson nicht er selbst, würde er nicht mit dem Instrument seiner Wahl hadern, ein überaus physisches Duell eingehen: So spricht und stöhnt er unverständliche Worte in die Flöte hinein, wodurch seine Stimme und das Holzblasinstrument gleichzeitig erklingen. Fundament für das Stück legen Bass und Schlagzeug, die einen repetitiven wie hypnotischen Tribal-Groove bilden, über dem sich mit fortschreitender Laufzeit Bläser auslassen können. "Each millimeter of the toad, part 1" beginnt mit elektronischem Noise-Gefiepe und einem zurückgenommenen Bass-Ostinato. Dann verfällt der Song in einen tighten Groove und Gustafsson jammert wieder in die Querflöte hinein. Was er aus dem Instrument herauszuholen vermag, ist nicht weniger als verblüffend.
"Each millimeter of the toad, part 2" führt das im ersten Teil eingeführte Motiv weiter, holt sich an der Bläserfront etwas Verstärkung durch Trompete und Posaune. Gemeinsam bewegen sie sich bei einem gleichbleibenden, pulsierenden Rhythmus tiefer ins Ungewisse. Gustafssons Bariton-Solo ist dabei rau und kocht immer wieder über, bleibt aber der melodischen Umgebungsharmonie treu, streunt nur vorsichtig um das abgesteckte Soundfeld herum. Der Titeltrack treibt das Album mit fokussiertem Rhythmus voran. Bass und Schlagzeug geben – wie auf jedem Track dieses Albums – einen unwiderstehlichen Groove vor, der trotz oder gerade wegen seiner Einfachheit in Mark und Bein geht. Das anschwellende, unisono jaulende Bläserensemble baut sich auf, sinkt in sich zusammen. Die einzelnen Instrumente bekommen genügend Zeit, sich vorzustellen, bevor wieder das gemeinsam gespielte Motiv in den Vordergrund rückt. Ohne die hypnotische Rhythmusfraktion würde das Stück sich verlieren. Doch der Kontrast zwischen offenen luftigen Bläsern und dem glasklaren, minimalen Groove betont die separaten Charakteristika in einer so sich vervollständigenden Weise, dass es eine Wonne ist.
Der Closer "Alien (To my feet)" ist ein atmosphärisch dichtes, zartes, düster frei improvisiertes Dark-Jazz-Stück. So verhuscht und feinsinnig hat man Gustafsson vielleicht noch nie spielen hören. Und gleichzeitig spürt man hinter jedem Ton eine Intensität und klare Intention, eine solche emotionale Bestimmtheit, die selbst bei seinen leidenschaftlichsten Kakophonien der Vergangenheit nicht oft zu hören war. "Defeat" zeigt Fire! als reduzierte Band. Als Band, die auch mit wenigen Tönen und fokussierten, geradlinigen Improvisationsläufen dem Jazz etwas Neues abringen kann. Um ein Klischee zu bemühen: Weniger ist eben manchmal wirklich mehr. So kann der Free Jazz tatsächlich mal wieder frei klingen.
Highlights
- Each millimeter of the toad, part 2
- Alien (To my feet)
Tracklist
- A random belt rats you out
- Each millimeter of the toad, part 1
- Each millimeter of the toad, part 2
- Defeat (Only further apart...)
- Alien (To my feet)
Gesamtspielzeit: 36:15 min.
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Der Untergeher User und News-Scout Postings: 1874 Registriert seit 04.12.2015 |
2021-03-11 13:11:13 Uhr
Mats Gustafsson can do no wrong. Mal wieder sehr fein. Der Closer ist groß! |
Armin Plattentests.de-Chef Postings: 27973 Registriert seit 08.01.2012 |
2021-03-10 20:40:04 Uhr - Newsbeitrag
Frisch rezensiert. Meinungen? |
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Referenzen
Mats Gustafsson; Fire! Orchestra; The Thing; Angles 9; Time Is A Mountain; Peter Brötzmann; Matana Roberts; Rob Mazurek; Anna Högberg Attack; Oren Ambarchi; Jim O'Rourke; Eric Dolphy; Ornette Coleman; Art Ensemble Of Chicago; Zu; The Necks; Nik Bärtsch's Ronin; Jaimie Branch; Wadada Leo Smith; John Zorn; Mary Halvorson; Pharoah Sanders; Anthony Braxton; Electric Masada; Joe McPhee; Sun Ra; Roscoe Mitchell; Archie Shepp; Albert Ayler; Evan Parker; Peter Evans; Cecil Taylor; Colin Stetson; Sonny Sharrock; Irreversible Entanglements; Last Exit
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