Julien Baker - Little oblivions
Matador / Beggars / Indigo
VÖ: 26.02.2021
Unsere Bewertung: 7/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
Glühende Dolche
Julien Baker leidet. Obwohl sie sich bereits an ihrem verstauchten Knöchel gelabt und die Lichter zum Wundenaufreißen ausgeschaltet hat, scheint die Lust am Schmerz noch nicht befriedigt: "Beat myself till I'm bloody / And I'll give you a ringside seat." Körperlicher Schmerz bleibt die wirkungsvollste Metapher für die von Depression und Sucht geplagte Psyche der jungen Frau, weil er oftmals schlicht keine Metapher ist. Und doch macht Bakers drittes Album "Little oblivions" etwas entscheidend anders als seine Vorgänger. Während "Sprained ankle" und "Turn out the lights" die unmittelbarste Artikulation der Seele in ihrem düsteren Akustikgitarren- und Piano-Minimalismus suchten, strahlt hier ein offenerer, poppigerer Bandsound. Der grandiose Opener "Hardline" erstaunt nicht nur mit den zuvor absenten Drums, sondern auch mit fast schon Shoegaze-artigen Wänden verzerrter Saiten und Synths. "I can see where this is going / But I can't find the brake", singt die 25-Jährige hier und macht von Beginn an klar, dass unter der weicheren Hülle immer noch Glassplitter stecken. Die Realisation des eigenen Drangs zur Selbstschädigung reicht keineswegs aus, um diesen abzuschwächen: "It's just the sort of thing that I enjoy."
Das komplizierte Verhältnis zur Religion, das Bakers Werk schon immer durchzog, findet eine seiner schärfsten Spitzen in "Faith healer". Der musikalisch ambige Song – zu unhandlich fürs Mainstream-Radio, zu bunt für die stille Indie-Kammer – setzt den Wunderheiler mit dem Dealer gleich, entlarvt Gott und Droge gleichermaßen als Träger einer Scheinerlösung, die sich stets das leichteste Opfer sucht: "I'll believe you if you make me feel something." Dennoch fällt es schwer, sich komplett vom Glauben loszusagen, wie das eingangs zitierte "Ringside" in einer einfachen Frage konzentriert: "So Jesus, can you help me now?" Wenn sich jener Track zur krachig stampfenden Klimax aufschwingt, versteht man nicht zuletzt auch den Sinn hinter den lauteren Arrangements. Sie sind Ausdruck eines neuen Selbstbewusstseins von Baker, die sich nicht länger von Fernsehpredigern einschüchtern lässt und ihr Heil öfter in die eigene Hand zu nehmen versucht. "I don't need a savior", heißt es in "Relative fiction", einem besonders mitreißenden Aufbruchslied. Und wenn die Beine doch wacklig werden, kommen in "Favor" Phoebe Bridgers und Lucy Dacus dazu, um ihrer Freundin und Boygenius-Kollegin unter die Arme zu greifen.
Die üppige und fast vollständig alleine eingespielte Instrumentierung sorgt für einige überraschende Schnörkel: Man achte etwa auf das Banjo in "Heatwave" oder die wirbelnden Drums am Ende von "Bloodshot". Auch reduziertere Stücke wie "Crying wolf" oder der Closer "Ziptie" profitieren von ihrem Pop-Schimmer, weil er ihnen eine willkommene Wärme gibt. Und doch ist "Little oblivions" auf hohem Niveau eine kleine Enttäuschung, was allerdings in erster Linie an der schieren Größe und emotionalen Wucht seiner Vorgänger liegt. Bakers Worte stechen einem nach wie vor glühende Dolche ins Herz, ihr immer noch sehr gutes, aber ein bisschen abgeflachtes Songwriting erreicht eine solche Intensität nur vereinzelt. Die markerschütterndste Symbiose gehen Text und Musik im nur auf Klavier und Stimme beschränkten "Song in E" ein. Wieder geht es um Alkohol, um endlosen Schmerz, den der Körper so sehr verinnerlicht hat, dass er jede Heilung schon von selbst abstößt: "I wish that you'd just hurt me / It's the mercy I can't take." Wer hier mit Redundanz kommt, versteht den Charakter von Sucht nicht, die wie ein überzeichneter Held im Kriegsfilm auch mit tausend Pfeilen im Rücken immer wieder aufsteht. Julien Baker leidet. Und das so nahbar, plastisch und ja, auch trotzig wie wenig andere.
Highlights
- Hardline
- Relative fiction
- Ringside
- Song in E
Tracklist
- Hardline
- Heatwave
- Faith healer
- Relative fiction
- Crying wolf
- Bloodshot
- Ringside
- Favor
- Song in E
- Repeat
- Highlight reel
- Ziptie
Gesamtspielzeit: 42:39 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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The MACHINA of God User und Moderator Postings: 31659 Registriert seit 07.06.2013 |
2023-09-28 14:46:02 Uhr
Ich muss sagen auch wenn das nach "Turn out the lights" eine rechte (emotionale) Enttäuschung ist, finde ich das Album inzwischen gar nicht mehr so schlecht. Gerade die sphärische Seite wie im Opener steht ihr ziemlich gut. Und ich glaube so einen Brocken wie TOTL schreibt (und überlebt) man nur einmal. |
derdiedas Postings: 766 Registriert seit 07.01.2016 |
2022-04-29 10:38:10 Uhr
Zum ersten Mal live gesehen. Wirklich froh, dass ich da war, es gibt einfach wenige Künstler, die live so sichtbar in jeder Emotion ihrer Songs aufgehenSie tourt jetzt mit Begleitband, (vor allem, aber nicht nur für die neuen Songs). An sich super Musiker, die auch Spaß an der Sache, haben. Und dafür, Julien immer mal wieder kurz selig lächeln zu sehen, wenn sie ein bisschen lospostrocken, war's das eigentlich auch wert... Aber trotzdem, die Songs, die sie solo gespielt hat, waren doch um einiges intensiver. Diese Momente, wenn sie aus dem Nichts vom Flüstern zum Belting übergeht, gehen mit Begleitung leider etwas unter |
doept Postings: 713 Registriert seit 09.12.2018 |
2021-03-25 22:58:48 Uhr
Gerade den "Live" Album Release gesehen, wirklich stark!Hatte ja schon vermutet dass die Songs live fast besser als auf auf dem Album rüberkommen, und danach sah es bei dieser ersten Präsentaion auch aus (und vielleicht hätte sich Julien doch Musiker für das Album nehmen sollen anstatt alles selber zu machen, aber das ist natürlich Spekulatius). Die Session ist wohl erstmal nur bis Freitag/Samstag abrufbar (gegen Geld), mal sehen ob sie dann nochmal veröffentlicht wird. Es gab jedenfalls Headbanging, am Ende erstaunlich viel Krach und eine sensationelle Version von Turn out the lights. Hat Spaß gemacht! |
Gomes21 Postings: 4867 Registriert seit 20.06.2013 |
2021-03-13 13:00:46 Uhr
Im Gegensatz zu boygenius hat Baker bei mir nie wirklich gezündet. Und was ich lese (sowohl an positiven als auch negativen Einschätzungen) macht nicht gerade Lust auf einen neuen Versuch. Aber schon ganz interessant z.B. boneless überraschende Einschätzung warzunehmen. Da hab ich ja doch fast ein bisschen Lust auf's Album bekommen. Fast. |
Eliminator Jr. Postings: 1243 Registriert seit 14.06.2013 |
2021-03-13 12:59:59 Uhr
Bin da ganz bei boneless. Furchtbar leb- und ideenlose Platte. Ich werd auch irgendwie das Gefühl nicht los, dass dieses Album mit dem fehlgeleiteten Vorhaben entstanden ist, den (berechtigten) Fame ihrer guten Freundin Phoebe aufzugreifen und auf derselben Welle mitzuschwimmen. Man, ist das daneben gegangen. |
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Referenzen
Boygenius; Fenne Lily; Snail Mail; Soak; Torres; Phoebe Bridgers; Lucy Dacus; Better Oblivion Community Center; Taylor Janzen; Marika Hackman; Samia; Sharon Van Etten; Angel Olsen; The Staves; Hannah Georgas; Soccer Mommy; Margaret Glaspy; Julia Jacklin; Jessica Lea Mayfield; Mitski; Ellis; Caroline Rose; Frightened Rabbit; Bright Eyes; Death Cab For Cutie; Hop Along; Hayley Williams; Lucy Rose; Tomberlin; Haley Heynderickx; Neko Case; Cat Power; Lorde; Adele; Daughter
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