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Bartees Strange - Live forever

Bartees Strange- Live forever

Memory / Cargo
VÖ: 02.10.2020

Unsere Bewertung: 7/10

Eure Ø-Bewertung: 8/10

Maybe I just wanna fly

Je enger die Gitterstäbe im Käfig eines Menschen gefasst sind, desto größer werden die Sehnsüchte, die sich in ihm stauen. Bartees Cox Jr. wuchs als schwarzer Junge im größtenteils weißen Mustang, einer Kleinstadt in Oklahoma, auf. Obwohl er als Kirchen- und Opernsänger mit seiner Familie frei umherreiste, sperrte er sich innerlich ein, machte sich so unauffällig wie möglich. Vielleicht erklärt diese jahrelange Selbstunterdrückung, warum in seiner als Bartees Strange veröffentlichten Musik tausend Kessel gleichzeitig überkochen. Indie-Rock und geisterhafter Folk treffen auf R'n'B, Rap, Jazz, Blues und Electro. Stile vermengen sich ohne Trennlinien, zusammengehalten nur von der Stimme dieser eruptiven Ein-Mann-Band. Doch Strange ist kein prätentiöser Kunstinstallateur, der den Genre-Bruch zum Selbstzweck sucht, er bringt schlicht seine so lange erstickte Individualität zum unmittelbarsten Ausdruck. Deshalb konnte seine gefeierte EP "Say goodbye to pretty boy", eine Sammlung von The-National-Covern, auch außerhalb elitärer Nischen einen Hollywoodstar wie Ryan Reynolds begeistern. Und deshalb gerät auch das Debütalbum "Live forever" erstaunlich zugänglich, obwohl es in 35 Minuten musikalische wie emotionale Lichtjahre zurücklegt.

"Come to a place where everything's everything." In bester Moses-Sumney-Manier gleitet Strange über die Ambient-Brandung des eröffnenden "Jealousy" und formuliert in seiner Selbstbesänftigung ungewollt das Albummotto. Kurz darauf galoppiert "Mustang" los, die Anti-Hymne auf die alte Heimat. Der Introspektion körperlicher und psychischer Narben steht die kilometerweite Geste dieses aufbrausenden Synth-Rock-Songs gegenüber, der am Ende gar in ein paar kleine Hardcore-Anflüge kippt. "Boomer" konzentriert den Eklektizismus noch eindrücklicher. Von Jangle-Gitarren begleitet rappt sich der 31-Jährige durch die Strophen, schmettert einen Power-Pop-Refrain und zieht plötzlich eine Bridge mitten aus dem Mississippi-Blues hoch – und das in nicht einmal dreieinhalb Minuten. Im skizzenhaften R'n'B von "Kelly Rowland" prallen dann zerhackte Samples auf "Versace dreams", bevor "In a cab" Jazz-Bläser mit rotweintauglichem Post-Punk kreuzt. Nach nur fünf Tracks liefert "Live forever" nicht nur mehr Genres als der Spotify-Jahresrückblick, sondern auch die Erkenntnis, dass sich die Seele eines wahrlich musikliebenden Menschen in keine noch so geräumige Schublade quetschen lässt.

Und es geht genauso weiter. "Stone meadows" fährt das große Drama mit Shoegaze-Akzenten und stimmlicher Vollverausgabung auf, ehe der harte Bruch mit dem kühlen Dancefloor-Puls von "Flagey God" folgt. Unter seinem Industrial-Noise ergründet "Mossblerd" die Bedeutung dieser beständigen Richtungswechsel: "Genres keep us in our boxes", murmelt Strange angepisst, und später: "They tried to kill my spirit." Der Drang zur Katalogisierung, der gerade schwarze Künstler*innen oft intuitiv und pauschal in Bereichen der "black music" verortet, verkürzt mehr als nur ihre künstlerische Identität. Nach diesem kleinen Wutbrocken findet das Album jedoch zur Ruhe. "Far" und "Fallen for you" zupfen ihre poetischen Reflexionen ganz zart, auch wenn sich ersteres noch eine krachende Katharsis gönnt. Das finale "Ghostly" schwebt von technoiden Synths in einen handfesteren zweiten Part und legt offen, dass noch nicht alle Risse im Selbstbewusstsein gekittet sind: "Wish I could disappear more often /Just run home and hide." Haarscharf schrammt "Live forever" am Meisterwerk vorbei, weil noch der letzte Feinschliff in Songwriting und Flow fehlt – doch verstecken muss sich Strange eigentlich vor nichts mehr. Nun, nachdem er die Fesseln der Vergangenheit gesprengt und jedes Körperteil in einem anderen Genre platziert hat, stehen Bartees Cox Jr. alle Türen offen.

(Marvin Tyczkowski)

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Highlights

  • Mustang
  • Boomer
  • Flagey God
  • Far

Tracklist

  1. Jealousy
  2. Mustang
  3. Boomer
  4. Kelly Rowland
  5. In a cab
  6. Stone meadows
  7. Flagey God
  8. Mossblerd
  9. Far
  10. Fallen for you
  11. Ghostly

Gesamtspielzeit: 35:24 min.

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Armin

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2020-12-21 21:18:37 Uhr - Newsbeitrag
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