Rick Simpson - Everything all of the time: Kid A revisited

Whirlwind
VÖ: 30.10.2020
Unsere Bewertung: 7/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10

Kid J
Der Jazz drängelt sich langsam aber sicher immer weiter ins kollektive Pop-Bewusstsein. Angefangen mit dem enormen Hype um Kamasi Washington, entwickelten sich in den letzten Jahren zahlreiche Genre-Hochburgen, in den Vereinigten Staaten wie auch in Europa. London ist natürlich auch für diese Szene ein bedeutsamer Ort der Zusammenkunft. Dort, in der britischen Hauptstadt, werkelt ein Mann mit dem unspektakulären Namen Rick Simpson seit einiger Zeit so vor sich hin und macht sich dabei in der englischen Jazz-Szene langsam als Ensemble-Pianist einen Namen. Jener Künstler kam nun auf die charmante Idee, eines seiner Lieblingsalben komplett zu covern. Und ebenjenem dabei ein ziemlich interessantes Jazz-Kostüm maßzuschneidern. Ergibt ja auch Sinn: Das Meisterwerk der Band um Thom Yorke und Jonny Greenwood galt schon bei der Veröffentlichung als freigeistiges Wahnsinnsalbum, das so dermaßen zwischen den Stühlen sitzt, dass man dafür eigentlich keine geeigneten Worte mehr fand. Simpson zwirbelt sich nun aus den Originaltracks einen eigenen Jazz-Reigen, der manchmal nur noch in Spurenelementen an die ursprünglichen Songs erinnert.
"Everything in its right place" startet noch wenig verfremdet: Die Stimmung ist genauso dystopisch-schön wie beim Originaltrack, Bläser, Klavier und Drums duellieren hier in einem dynamischen Wettrennen um die Vorherrschaft. Einen endgültigen Sieger gibt es freilich nicht, denn letztlich gewinnen alle einzelnen Bestandteile an Intensität. Der Titelsong wird dann noch freier interpretiert, dreht im wild stürmenden Mittelteil komplett durch und feiert die Hochzeit von Avantgarde-Electropop und Free Jazz. Bei allem Mut zur Improvisation behält Simpson jederzeit den Überblick, lenkt die Tracks in Umlaufbahnen, die wie Satelliten um die ursprünglichen Versionen kreisen, manchmal andocken, oft aber nur von Weitem eine Ähnlichkeit erkennen lassen. "Idioteque", einer der stärksten Radiohead-Songs überhaupt, wird hier zu einer abstrakt flirrenden Piano-Skizze, die sich ihren irren Zuckungen hingibt und dabei jeder Kategorisierung entzieht. Ein dekonstruktivistischer Unruhepol, in aufmüpfigen Jazz gegossen.
Gemeinsam mit seinen Kollegen Dave Whitford, James Allsopp, Will Glaser und Tori Freestone, die ihn für dieses Projekt an den weiteren Instrumenten unterstützten, übersetzt Simpson "The national anthem" in atemlosen Piano-Jazz: Erst nach etwas über einer Minute wagen sich Bläser und Bass ins Getümmel, begehren auf und übernehmen die Führung in diesem ruhelosen Durcheinander. "How to disappear completely" verliert natürlich seine emotionale Unmittelbarkeit, verpflichtet sich jedoch auch in dieser Saxofon-zentrierten Version der zartbitteren Melancholie, die man an dunklen Tagen und in langen Nächten empfindet. Die größte Leistung Simpsons ist es, den Charakter der Stücke unangetastet zu lassen, während er ansonsten ziemlich viel auf links dreht. Das liegt zum einen natürlich am Fingerspitzengefühl des Arrangeurs, zum anderen aber auch an der zeitlosen Offenheit der Originalsongs, die diese Bearbeitung erst möglich macht: Alles sitzt am richtigen Platz.
Highlights
- Everything in its right place
- The national anthem
- Idioteque
Tracklist
- Everything in its right place
- Kid A
- The national anthem
- How to disappear completely
- Treefingers
- Optimistic
- In limbo
- Idioteque
- Morning bell
- Motion picture soundtrack
Gesamtspielzeit: 42:42 min.
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