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AnnenMayKantereit - 12

AnnenMayKantereit- 12

Vertigo / Universal
VÖ: 17.11.2020

Unsere Bewertung: 6/10

Eure Ø-Bewertung: 4/10

In der verlorenen Zeit

"Leute, Corona ist so omnipräsent, wir hängen bitte nicht jeden unserer Texte daran auf, es sei denn, es gibt einen triftigen Grund – die Leute suchen ja auch Ablenkung bei uns." Diese deutlichen Worte vernahm man im Frühjahr 2020 aus der obersten Riege von Plattentests.de. Nachvollziehbar und richtig, aber da hatte der Chef die Rechnung ohne die Künstlerinnen und Künstler gemacht. Natürlich sind es gerade Musizierende oder Kunst- und Kulturschaffende, denen die COVID-19-Pandemie einen überdicken Edding-Strich durch jegliche Rechnungen zog. Nicht verwunderlich, dass nicht wenige thematisieren, was sie umtreibt: Die an den Nerven zehrende Unsicherheit, der leichte Groll über fehlende Perspektiven, der sich Gehör verschafft. Oder um es schlicht wie Cloud-Nothings-Mann Dylan Baldi zu halten: "The mess is everywhere". Und nein, die Art und Weise, wie diese Wochen und Monate (plus mutmaßlich die noch folgenden) nicht nur die Kulturlandschaft, sondern auch die Gesellschaft rund um den Globus verändern, und in welchem Ausmaß, ist noch immer nicht abzusehen.

AnnenMayKantereit können von all dem – oder besser: inmitten von all dem – ebenfalls Lieder singen. Denn das Brutalste – neben all den bedauernswerten Todesfällen – war der plötzliche Stillstand, die damit verbundene Unsicherheit, das Verzagen, die Angst. AnnenMayKantereit waren im Februar und März 2020 auf ihrer bis dato größten Tour überhaupt unterwegs gewesen, ausverkaufte Hallen warteten, doch jäh kam alles anders. Jene Themen und Gefühle sind auf "12", dem vierten Album der grundsympathischen Kölner DIY-Popstars, greifbar. Mehrere Stücke der Platte basieren auf Ideen, Gedanken und Fragmenten, die im ersten Shutdown an Henning Mays Klavier entstanden. Und die das Trio zunächst meist separat beziehungsweise in Video-Konferenzen weiterentwickelt und dann in der Abgeschiedenheit der Eifel final geschliffen hat. Man darf also behaupten, dass "12" ein Pandemie-Album geworden ist. Das nachdenklich mit einem Piano-Intro beginnt, zunächst in der Demo-Fassung: "Alles was wir haben, stammt aus einer vergangenen Zeit", sagt May vernehmbar fassungslos, um den Satzanfang "So wies war" in gleichnamigem Fragment mit der niederschmetternden Analyse "...wird es nie wieder sein" zu ergänzen.

Im Kontext der beinahe jeden und alles betreffenden, globalen Pandemie fällt es nicht schwer zuzuhören, gelingt es stellenweise gar, mit den Musikern gemeinsam zu leiden. Oder sollte man jammern sagen? Nicht nur, wenn May im gospelartigen "Gegenwartsbewältigung" beinahe fatalistisch wird ("Ich habe keine Hoffnung zu verkaufen!") sind die Grenzen fließend. "Gegenwart", "Gegenwartsbewältigung" und "Zukunft" sind nicht nur drei Song-Fragmente, die in dieser Reihenfolge als ein einziges Stück durchgehen, sondern auch zentrales Thema der Platte über eine Zeit, die nicht greifbar ist und die wir uns schwer tun zu verstehen. Zumindest ebnen jene gemeinsamen Erfahrungen aus der teilweisen Isolation den Weg, dass die oft viel zu tagebuchartigen und wenig originellen Texte von AnnenMayKantereit auf "12" weniger störend sind, und man verwundert feststellt, dass "Gegenwart" bei aller Traurigkeit auch kritische Doppeldeutigkeit bereithält: "Die Kneipen schließen / Die Kinos auch / Die Gelder fließen / Die Tränen auch / Woher sie plötzlich kommen, weiß niemand so genau."

Stimmung und Arrangements unterscheiden sich von dem auf "Schlagschatten" genommenen Weg, denn "12" bietet häufig reduzierteres Songwriting am Piano, geschmückt mit Sprechgesang, Gospel-Einlagen, ergänzt durch Percussion und zarte elektronische Effekte. Zumindest bis zum ebenfalls intimen und gelungenen "Vergangenheit". Im Mittelteil sind zum Bedauern des Rezensenten allerdings die alten AnnenMayKantereit zurück. Und mit "Warte auf mich (Padaschdi)", dem launigen aber kitschigen "Spätsommerregen" und dem belanglos-nervtötenden "Paloma" auch jene brave Dudel-Musik für den Schlag Mensch, für die selbst in der Pandemie mit "der Kultur" alles halbwegs okay ist, solange Julia Engelmann einen gerahmten Spruch fürs Wohnzimmer spendiert, Netflix nicht offline geht und Lieferando das Avocado-Sushi bringt.

Doch "12" bekommt im letzten Drittel wieder die Kurve. Weil May einen in "Das Gefühl" beinahe poetisch am Hemdkragen packt. Weil der Lagerfeuer-Aktustik-Pop "So laut so leer" subtil, aber treffend die laute Minderheit der "Wir sind das Volk"-Schreier entlarvt. Und natürlich, weil die feine "Letzte Ballade" dann mit offenem Visier gesellschaftliche Fehlentwicklungen anprangert und die reale Sorge äußert, dass Hass, Gewalt und extremistischer Terror so normal geworden sind, dass schon bald keiner mehr davon singen wird. Und dann ist da noch der fluffige Indie-Pop von "Aufgeregt", bei dem zwar keiner so genau weiß, wo AnnenMayKantereit diesen verschmitzten Optimismus auf einmal herzaubern. Aber als kleiner Hit geht das klar, und man wippt beim Blick ins November-Grau fast hibbelig mit dem Fuß, die Gedanken voller Hoffnung in die Zukunft gerichtet. Denn sie werden kommen, die Tage, in denen die Pandemie abebbt und das Leben sich große Teile des Alltags zurückholen wird. Vielleicht wird der dann ja sogar umsichtiger, sozialer, mitmenschlicher und intensiver als je zuvor. Man darf ja wohl noch träumen.

(Eric Meyer)

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Highlights

  • Gegenwart
  • Aufgeregt
  • So laut so leer
  • Die letzte Ballade

Tracklist

  1. Intro
  2. So wies war
  3. Gegenwart
  4. Gegenwartsbewältigung
  5. Zukunft
  6. Vergangenheit
  7. Spätsommerregen
  8. Warte auf mich (Padaschdi)
  9. Paloma
  10. Ganz egal
  11. Aufgeregt
  12. Interlude
  13. So laut so leer
  14. Das Gefühl
  15. Die letzte Ballade
  16. Outro

Gesamtspielzeit: 37:54 min.

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User Beitrag

nörtz

User und News-Scout

Postings: 13851

Registriert seit 13.06.2013

2020-11-28 00:06:52 Uhr
Um fair zu sein: Bilderbuch und Wanda sind im Grunde keinen Deut besser als AMK...

Nein.

Autotomate

Postings: 6174

Registriert seit 25.10.2014

2020-11-28 00:06:18 Uhr
Ich würde es nochmal versuchen. Vielleicht schrumpft es noch.

Mic

Postings: 394

Registriert seit 24.08.2019

2020-11-27 23:41:42 Uhr
Das ist so so so schlimm dieses Album. Ich habe es mir angehört. SO so schlimm.

Oceantoolhead

Postings: 2278

Registriert seit 22.09.2014

2020-11-27 21:48:18 Uhr
@boneless

Mir ging es da auch weniger um Qualität, sondern um die Authentizität die hier angezweifelt wurde.

boneless

Postings: 5293

Registriert seit 13.05.2014

2020-11-27 19:11:44 Uhr
Mir fällt da per se nur ein Beispiel wie Blackpink ein: von einer riesigen Plattenfirma über Jahre hinweg zusammengecastet. Produzenten und Songwriter bereitgestellt, nur noch vorgegebene Gesangsspuren müssen eingesungen werden und vorgegebene Choreos geübt. Der Rest wird von oben komplett durch delegiert (schaut euch die Netflixdoku an, da stehen einem die Haare zu berge). Hier würde ich das Argument gelten lassen.
Ein Blick rüber zu Annemaykantereit zeigt: Songs sind selber eingespielt, selber geschrieben, Lyrics selber geschrieben. Nicht zusammengecastet.


Hm, ein schwacher Trost. AMK sollten vielleicht mal darüber nachdenken, ob sie ihre Songs und Texte nicht von anderen schreiben lassen.

Ein englischsprachiger Text lässt sich von den meisten Deutschen halt besser ausblenden als ein deutschsprachiger. Darum fallen schlechte deutsche Texte mehr ins Gewicht.

Das ist der Punkt. Ich würde mich allerdings nicht wirklich als kritisch diesbzgl. bezeichnen. Wenn es um Texte geht, ist es mir im Grunde schnurzegal, was gesungen wird, solange die Musik stimmt. Bei AMK stimmt halt leider beides nicht.

Bei "Aufgeregt" wird in meinen Ohren eher eine Stimmung (ein Aufatmen, eine Vorfreude) nach Außen getragen, keine krasse Message. Bilderbuch-Texte sind nicht deutlich besser, in der Regel, nur mehr gaga, was dann cooler ist. Und bei Wanda muss ich auch häufig weghören. Aber da gelten dann anscheinend Konzept (Bilderbuch = lautmalerische Reim-Sprache) oder Attitüde (Wanda = coole Rocker).

Ich verteidige AMK sicherlich nicht, aber etwas fairer in der Analyse sein, schadet ja nicht.


Um fair zu sein: Bilderbuch und Wanda sind im Grunde keinen Deut besser als AMK, wobei Bilderbuch wenigstens noch hier und da mit ihrem Humor punkten können.
Über Wanda hüllt man lieber den Mantel des Schweigens, die sind nach Hitler das Schlimmste, was aus Österreich nach Deutschland geschwappt ist. (Um mal Godwins Law zu bestätigen :D)
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