Emmy The Great - April / 月音

Bella Union / [PIAS] Cooperative / Rough Trade
VÖ: 09.10.2020
Unsere Bewertung: 7/10
Eure Ø-Bewertung: 9/10

Zwei Herzen
2019, inmitten weltweiter Unruhen, begann auch in Hong Kong der Kessel überzukochen. Auf einen Gesetzesentwurf, der die Autonomie der Stadt gegenüber Festland-China bedrohte, folgten Proteste, die am 12. Juni auch in Gewalt mündeten. Nur kurz zuvor hatte Emma-Lee Moss ihr Geburtsland nach einem Aufenthalt mit ihrer kleinen Tochter wieder verlassen. Bei der britisch-chinesischen Songwriterin, die bis zu ihrem 12. Lebensjahr in Hong Kong aufwuchs und mittlerweile in New York lebt, reflektierte die Musik stets das Privatleben – unvergessen bleibt das grandiose "Virtue", ein Trennungs-Album über ihren zum christlichen Missionar konvertierten Atheisten-Ex. Nun, vielleicht im Zuge der frischen Mutterschaft, suchte Emmy The Great den Kontakt zu ihren Wurzeln, den Einklang ihrer vielfachen kulturellen Identitäten. Das Resultat, ihre vierte Platte "April / 月音" verbindet nicht nur westlichen Indie-Pop mit fernöstlichen Arrangements und Geschichten: Es konserviert darüber hinaus ein friedvolles, verklärtes Hong Kong, das angesichts des aktuellen politischen Lärms wie ein Traumidyll wirkt. Nicht zuletzt sorgt das Album auch wieder für Unverständnis darüber, warum noch immer kaum ein Schwein diese mit so viel Sprachwitz, musikalischem Talent und einer wundervollen Stimme gesegnete Frau kennt.
Die unkonventionelleren Aspekte sollten jedenfalls niemanden abschrecken, da Moss sie nur sehr dezent verwebt. Durch einen Song wie "Writer" schwebt der Geist großer US-amerikanischer Bardinnen: Die Gitarre perlt, die Metaphern fließen und der Tod eines Ehemanns wird mit trockener Lässigkeit aufgenommen. Das tolle, folkig hüpfende "Mary" schlägt in eine ähnliche Kerbe und erzählt von einer selbst nicht vom Glück verfolgten Wahrsagerin. Die 36-Jährige leitet aus kleinen Alltagsgeschichten die großen Sinnsachen ab, lokalisiert ihre Stories nicht explizit, aber eint sie durch einen gerade musikalisch immer präsenten Optimismus. "Love is an obsession that lives in my phone", singt Moss in "A window / O'Keeffe", ehe sie ihr Handy ausschaltet und sich in eine bildsprachlich wie akustisch schillernde Zelebration des Sommers stürzt. Das von einer beschwingten Orgel befeuerte "Dandelions / Liminal" fährt die ganz großen Pop-Melodien auf, um den Unsicherheiten des Lebens mit einem breiten Grinsen zu begegnen – und enthält dazu ein paar der unterhaltsamsten Zeilen der Platte: "You say 'We've lost touch with Mother Nature' / I say, 'I need to call my mother too.'"
Dass das schon zweifach betitelte "April / 月音" ein Album des Dualismus ist, verdeutlicht kein Track so sehr wie "Chang-E". Moss verknüpft die amerikanische Mondlandung mit dem chinesischen Mythos der Königin, die zusammen mit einem weißen Hasen zum Erdtrabanten floh. Die Hollywood-esken Orchester-Akzente verwandeln sich im Lauf des Stücks in asiatische Streich- und Percussion-Instrumente – eine so gelungene Verbindung von Form und Inhalt hört man nicht allzu oft. In der zweiten Albumhälfte verlieren die Kompositionen auf hohem Niveau etwas an Griffigkeit, doch die Arrangements bleiben detailreich und voller Studio-Magie. Im sphärischen "Okinawa / Ubud" gleiten die Streicher über Xylophon-ähnliche Klänge, während "Your hallucinations" vervielfachte Stimmen und Synths übereinanderschichtet. "Hollywood Rd. / April" schielt mit Piano, Gitarre und Doo-Wop-Vocals Richtung Sixties und leitet in den facettenreichen Closer "Heart sutra" über, in dem es an allen Ecken und Enden klopft, blubbert, glitzert. "I'm going to walk out of here / […] / I won't keep on coming back again", deklariert Moss hier in einem Moment der Abkehr – vielleicht von ihrem geliebten Hong Kong, dessen Unruhe wohl nicht optimal dafür geeignet ist, ein Kind großzuziehen. Doch welcher Ort auf der Welt wäre das zurzeit schon?
Highlights
- Dandelions / Liminal
- Chang-E
- Mary
Tracklist
- Mid-Autumn / 月音
- Writer
- Dandelion / Liminal
- Chang-E
- A window / O'Keeffe
- Okinawa / Ubud
- Your hallucinations
- Mary
- Hollywood Rd. / April
- Heart sutra
Gesamtspielzeit: 38:21 min.
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(Neueste fünf Beiträge)
User | Beitrag |
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Alice Postings: 262 Registriert seit 27.10.2019 |
2020-10-29 21:01:09 Uhr
Fand es leider so langweilig dass ich keine Lust habe es nochmal zu hören. Ihr Debüt war für mich die stärkste Platte, Virtue auch noch gut, danach leider nichts aufregendes mehr. |
Alice Postings: 262 Registriert seit 27.10.2019 |
2020-10-28 22:21:46 Uhr
Schon seit 2 Wochen draußen und ich hab gar nichts mitgekriegt... Freue mich aufs Hören, ich mag sie sehr gern. |
Armin Plattentests.de-Chef Postings: 28017 Registriert seit 08.01.2012 |
2020-10-28 22:17:22 Uhr - Newsbeitrag
Frisch rezensiert. Meinungen? |
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Referenzen
Belle And Sebastian; Will Butler; Hazel English; Hannah Georgas; Holly Miranda; Sharon Van Etten; Lykke Li; Tilly And The Wall; Allo Darlin'; Joan As Police Woman; Lisa Hannigan; Laura Marling; KT Tunstall; Joni Mitchell; Maria Taylor; Jenny Lewis; Jenny Owen Youngs; Alessi's Ark; Basia Bulat; Jessica Lea Mayfield; Cat Power; Feist; Martha Wainwright; Laura Veirs; Neko Case; Anna Ternheim; Hope Sandoval & The Warm Inventions; Regina Spektor; Lucy Rose; Kimya Dawson; Bon Iver; Bright Eyes; Conor Oberst; Lily Allen; Kate Nash
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