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Jónsi - Shiver

Jónsi- Shiver

Krunk / Warner
VÖ: 02.10.2020

Unsere Bewertung: 7/10

Eure Ø-Bewertung: 7/10

In jede Richtung

So ganz traut die Platte der neuen Umgebung nicht. Ein Klavier wird angeschlagen, der Hocker knarzt. Lange passiert nichts weiter. Dann singt Jón þór Birgisson zögerlich "Breathe in, breathe out". Nicht der schlechteste Vorschlag. Den umwerfenden Refrain muss man im Anschluss erst mal verkraften. "It's just the way it is / It isn't your fault / Just let it go." Jónsi tröstet wieder Seelen. Plötzlich wird jedoch alles anders. Ein handfester Beat setzt ein, elektrische Spannung liegt in der Luft. Und man ist mittendrin im Song "Exhale" und damit im zweitem Soloalbum "Shiver" des Mannes, der eigentlich mal ätherischen Fokus auf purer Schönheit in seiner Funktion als Sigur-Rós-Frontmann mitgeprägt hat. An diesen elf Songs hat allerdings der Londoner Produzent A. G. Cook mitgewirkt, der mit seinem Label PC Music und unlängst mit Charli XCX sowie seiner eigenen 49-Song-Werkschau "7G" und dem ungleich kompakteren "Apple" futuristischen, sperrigen Pop prägt. Mit Schönheit hat er wenig am Hut. Das ergibt interessante Ausgangsvoraussetzungen für "Shiver".

Auf dem Cover halten zwei Hände Jónsis Kopf von hinten, eine weitere scheint ihn nach vorne zu ziehen. Gleichermaßen tragen die Songs zwar altbekannte Merkmale seines Sounds mit sich, doch Cooks entgegengesetzter Einfluss ist kaum überhörbar. Allerseits klattert, schnattert und glitcht es. "Go" war ähnlich hyperaktiv, aber auf eine euphorische Weise. Auf "Shiver" sind die Abgründe tiefer, die Stücke schwieriger. Das lässt das Album zerrissen wirken, viele Songs von der Spur abkommen. Der Titeltrack erinnert sich zwar immer mal wieder an sein Motiv, verliert sich aber dazwischen im Dickicht. Auch "Sumarið sem aldrei kom" und "Kórall", die beiden einzigen isländischsprachigen Kompositionen in der Mitte der Platte, verweigern sich der Nachvollziehbarkeit. Ersteres beginnt als langgezogener Sigur-Rós-Song und gerät plötzlich ins Unwetter, Letzteres nascht an Sufjan Stevens' elektronischeren Eskapaden, verfällt in liebliches Geglöckel und tackert eine völlig ratlos zurücklassende Horrorpassage an. "Shiver" möchte mit es seinen Extremen ganz klar niemandem einfach machen.

Meist geht die Symbiose neben dem erwähnten Opener "Exhale" viel besser auf. "Wildeye" begrüßt mit aggressivem Lärm aus Cooks Bastelstube. "You fill my mouth full of gravel / You scrape me up with the shovel", zischt Jónsi zum Donnerhall. Doch die Kehrtwenden zum melodischen Refrain und zur Schlussattacke gelingen, ohne dass Sollbruchstellen erkennbar sind. "Swill" zieht die beiden Pole noch enger zusammen, gibt nach sägendem Intro die Streicheleinheit mit den Worten "I strapped a lace around your skinny waist / It might as well be my neck that's hanging in." Der Chorus ist so etwas wie EDM mit isländischem Flair. Pop-Queen Robyn gibt derweil ein Gastspiel in "Salt licorice", welches zu knurrigen Synths die dicke Dance-Party ausruft. Leider kommt der großartigen Elizabeth Fraser keine ganz so prominente Rolle, sondern mehr ein Cameo-Auftritt zu, trotzdem erfreut "Cannibal" vor allem, weil sein klassisch-wunderbarer Refrain keine Knüppel zwischen die Beine geworfen bekommt. "Hold" erinnert derweil an Fennesz' kurzatmige Loops und man fragt sich, warum Jónsi nicht auch mal mit ihm kollaboriert.

Doch erst die beiden Abschlusssongs dürften wirklich auch diejenigen zufriedenstellen, die auf mehr Material im Sinne der Hauptband gehofft hatten. "Grenade" ist besonders hübsch geraten und inmitten all des Chaos wie ein wohlverdienter Ruhepol platziert. "Carefully, we remove the pin from the grenade." Funktionierte offenbar, denn ansonsten wäre ein weiteres Beat-Bombardement an der Tagesordnung gewesen. Dennoch ist trotz des versöhnlichen Ausklangs der Platte erkennbar, dass Jónsi weg möchte aus alten Routinen. "Shiver" mag daher zunächst verstörend order irritierend wirken, viele der Knoten – wenn auch nicht alle – lösen sich jedoch mit der Zeit. Das Pairing von Jónsis Ästhetik mit dem kantigen PC-Music-Ansatz ist ein spannendes Projekt, das bereits hier zu vielen großartigen Ergebnissen kommt. Und da die Zukunft von Sigur Rós weiter ungewiss bleibt, ist es beruhigend, dass der Frontkopf eine vielversprechende neue Richtung eingeschlagen hat.

(Felix Heinecker)

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Highlights

  • Exhale
  • Wildeye
  • Swill
  • Grenade

Tracklist

  1. Exhale
  2. Shiver
  3. Cannibal (with Elizabeth Fraser)
  4. Wildeye
  5. Sumarið sem aldrei kom
  6. Kórall
  7. Salt licorice (with Robyn)
  8. Hold
  9. Swill
  10. Grenade
  11. Beautiful boy

Gesamtspielzeit: 52:24 min.

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(Neueste fünf Beiträge)
User Beitrag

Felix H

Mitglied der Plattentests.de-Chefredaktion

Postings: 8923

Registriert seit 26.02.2016

2021-10-31 19:16:45 Uhr
Danke. :-) Ihr seid gern dazu eingeladen, für neue Alben auch einen neuen Thread aufzumachen, falls es noch keinen gibt.

The MACHINA of God

User und Moderator

Postings: 30386

Registriert seit 07.06.2013

2021-10-31 18:18:16 Uhr
Falscher Thread. :)

Martinus

Postings: 383

Registriert seit 13.01.2014

2021-10-31 17:47:13 Uhr
Ui, das neue Album ist echt stark.
Würd mich sehr über eine Review freuen.

ichreitepferd

Postings: 675

Registriert seit 22.04.2021

2021-10-30 10:33:28 Uhr
neues Album gefällt mir gut.

Given To The Rising

Postings: 7679

Registriert seit 27.09.2019

2020-10-05 13:34:03 Uhr
Laute Momente bei Sigur Rós? Der Ausbruch bei Vidrar Vel Til Loftarasa, Glósóli oder Brennistein?
Zum kompletten Thread

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