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Bill Callahan - Gold record

Bill Callahan- Gold record

Drag City / Indigo
VÖ: 04.09.2020

Unsere Bewertung: 7/10

Eure Ø-Bewertung: 9/10

Größe im Kleinen

"Hello, I'm Johnny Cash." Mit einem Fanal aus leise gezupften Gitarren und seinem tiefen, sanften Bariton, der mit steigendem Alter zunehmend wie flüssiges Gold aus den Boxen zu rinnen scheint, lädt Bill Callahan zur Märchenstunde. Wenn einer der profiliertesten amerikanischen Singer-Songwriter seiner Generation sein Album mit einer solchen Pointe beginnt, zeugt das im gleichen Atemzug von lange erarbeiteter Selbstgewissheit und -ironie. Wer sich seiner eigenen Unverkennbarkeit bewusst ist, muss sie nicht ausstellen und kann gelassen hinter ihr zurücktreten. Und so imaginiert sich Callahan in "Pigeons" als Chauffeur zweier frisch Vermählter, die er durch Südtexas fährt, während von jenseits der Grenze dezente Mariachi-Klänge in den Song herüberwehen. Charmante Anekdoten und der Versuch des Erzählers, gar nicht abgeschmackte Weisheiten über das Eheleben zu vermitteln, reihen sich aneinander, und es fällt nicht schwer, darin auch Einsichten über Callahans Songwriting zu hören: "How my words had gone over, well, I couldn't tell / Potent advice or preachy as hell." Schließlich ist es bloß ein Jahr her, dass er auf "Shepherd in a sheepskin vest" das Hohelied auf die Familie sang – nicht ungebrochen zwar, aber doch ungewohnt für jemanden, der über Jahrzehnte so messerscharf die Abgründe der menschlichen Psyche sezierte. "Pigeons" thematisiert also auch augenzwinkernd den Gedanken, Callahan könne nun vollends domestiziert sein. Und endet mit dem doppelbödigen Verweis auf "Famous blue raincoat", eine der berühmtesten Dreiecksbeziehungen der Musikgeschichte, der den Kreis schließt und noch einmal die vierte Wand bricht: "Sincerely L. Cohen."

Selbst nach Callahans Maßstäben ist "Gold record" ein minimalistisches Album geworden, in wenigen Takes eingespielt, überwiegend akustisch gehalten, mit behutsam hingetupften Geschichten und meist so intim, dass man das Holz der Gitarren atmen zu hören glaubt. Nun speiste sich Callahans lyrische Brillanz nie daraus, geschwätzig zu sein, sondern geschickt zwischen Dichte und Ellipse zu pendeln, bis seine Erzählungen weit länger nachhallen, als sie vordergründig andauern. "The Mackenzies" ist ein Paradebeispiel dafür: Als sein Auto liegenbleibt, findet sich der Erzähler bei einem älteren Ehepaar in der Nachbarschaft wieder und die Situation erscheint rasch eigenartig: Warum kehrt er nicht einfach nach Hause zurück? Aus einem alltäglichen Aufhänger entspinnen sich zwischen den Zeilen dann profunde Reflektionen über das Wesen der Familie, Abschied und den manchmal nicht zu unterdrückenden Wunsch nach Eskapismus. Wie diese Ebenen bei Callahan zusammenkommen, lässt sich freilich kaum paraphrasieren. "Gold record", das sehr viel kompakter geraten ist als sein Vorgänger, wirkt an vielen Stellen eher wie eine Sammlung von Kurzgeschichten – schließlich werden die Songs seit einiger Zeit auch im Wochentakt einzeln veröffentlicht. Auf die kleinste Ebene brechen sie herunter, wie zwischenmenschliche Verantwortung zu fassen ist und wie sie sich in Musik manifestieren kann. Mit dem Smog-Klassiker "Let's move to the country", vor 20 Jahren auf "Knock knock" erschienen, covert sich Callahan selbst, ändert zunächst wenig, ergänzt aber dann die unvollständigen Zeilen der Originalfassung, als hätte sich ein Versprechen erfüllt: "Let's start a family / Let's have a baby."

Letztlich sucht das Album nie den großen Effekt und könnte leicht als unscheinbar oder gemütlich verkannt werden. In der Tat dimmt vor allem "Breakfast" die Atmosphäre, wenn das Stück mit düsteren Akkorden und bitterer Lakonie den Zerfall einer Beziehung schildert: "I drink so that we don't fight / She don't drink so that we don't fight", heißt es da und in beunruhigender Metaphorik: "And when she leaves the surgery / She leaves her watch in me." Meist jedoch begegnen wir einfach einem großen Geschichtenerzäler, der uns an seiner mühsam erkämpften Ruhe teilhaben lässt, den Abgrund hinter sich gelassen, aber nicht vergessen hat. Nicht zuletzt die bluesigen Elemente verlangen beinahe danach, mit Callahan bei ein paar Dosenbier auf der Veranda zu verweilen und der Essenz eines unaufgeregten Songwritings zu lauschen, das auch die die Wahrheiten längst verblasster Generationen einbezieht. Das mögen manche etwas langweilig finden. Aber wenn Callahan im wunderschönen Closer "As I wander" beschwichtigt "For some sweet minutes / Everyone's counting on me / To get them home" und damit gleichermaßen seine Familie und Zuhörer anzusprechen scheint, dann wird vor allem eines klar: Nichts ist langweilig an menschlicher Wärme.

(Viktor Fritzenkötter)

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Highlights

  • Pigeons
  • 35
  • The Mackenzies
  • Breakfast
  • As I wander

Tracklist

  1. Pigeons
  2. Another song
  3. 35
  4. Protest song
  5. The Mackenzies
  6. Let's move to the country
  7. Breakfast
  8. Cowboy
  9. Ry Cooder
  10. As I wander

Gesamtspielzeit: 40:14 min.

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(Neueste fünf Beiträge)
User Beitrag

Armin

Plattentests.de-Chef

Postings: 26212

Registriert seit 08.01.2012

2020-08-23 20:18:44 Uhr - Newsbeitrag
Frisch rezensiert.

Meinungen?

u.x.o.

Postings: 510

Registriert seit 29.08.2019

2020-08-08 11:38:59 Uhr
Leider lässt mich die neue Version von County total kalt. Knock Knock habe ich jahrelang "geatmet", da ist Country fest in meinem Kopf mit seinem Ursprungssound verknüpft.

Mic

Postings: 394

Registriert seit 24.08.2019

2020-08-07 00:11:16 Uhr
Ja oder Xavier. Mir sind sofort auch Lambchop eingefallen bei dem Song. Aber irgendwie hat der Song nicht den lässigen Refrain, der die Songs so toll macht. Ist eher öde. Sorry. Und ich besitze 4 Vinyl von dem Kerl.

Armin

Plattentests.de-Chef

Postings: 26212

Registriert seit 08.01.2012

2020-08-03 19:45:44 Uhr - Newsbeitrag
"Let's Move to the Country":
https://ffm.to/letsmovetothecountry

Armin

Plattentests.de-Chef

Postings: 26212

Registriert seit 08.01.2012

2020-07-28 20:12:16 Uhr - Newsbeitrag
"The Mackenzies":
https://ffm.to/themackenzies
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