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James Dean Bradfield - Even in exile

James Dean Bradfield- Even in exile

MontyRay / Membran
VÖ: 14.08.2020

Unsere Bewertung: 7/10

Eure Ø-Bewertung: 6/10

Auf verlorenem Posten

Wäre dieses Album ein Film, es wäre kein intimes Biopic mit verwackelter Kamera und unbekannten Laiendarstellern, sondern ein opulenter Blockbuster, der alle zur Verfügung stehenden Register zieht. Kaum eine Minute dauert es, bis ein satter Britrock-Sound die lateinamerikanischen Folkklänge verdrängt, die zu Beginn von "Recuerdo" noch unweigerlich ein Lächeln ins Gesicht zaubern. Und obwohl die Hook sofort ins Ohr geht, schwindet damit doch gleichsam die Hoffnung, dass James Dean Bradfield es einmal etwas leiser und zurückhaltender anginge. Dass der Waliser mal nicht auf große Gesten und Überwältigung setzen würde. Diese frühe Enttäuschung ist keine ganz leichte Bürde für ein Album, das von nichts anderem als eben jenem Prinzip namens Hoffnung handelt – zumindest indirekt. Als Sänger und Gitarrist der Manic Street Preachers ist Bradfield bekanntermaßen geübt in provokant sozialistischen Posen. Nun setzt er mit "Even in exile" dem chilenischen Sänger, Theaterregisseur und Kommunisten Victor Jara ein musikalisches Denkmal. Bradfield und Jara – das passt zusammen wie Hammer und Sichel, möchte man sagen.

Neben James Dean Bradfield und Victor Jara ist in diesem Zusammenhang allerdings noch ein weiterer Name zu erwähnen: Patrick Jones. Der Schriftsteller und Bruder von Bradfields Bandkollegen Nicky Wire hat für dessen zweites Soloalbum die Texte beigesteuert. Sie streifen einzelne Episoden aus Jaras Leben und behandeln nicht zuletzt die Umstände seines Todes. Nach dem Militärputsch gegen Salvador Allende 1973 wurde Jara verhaftet und im Estadio Chile, das heute seinen Namen trägt, gefoltert und getötet. Vor seiner Ermordung brachen ihm seine Peiniger die Hände, um ihn am Gitarre spielen zu hindern. Dem NME sagte Bradfield: "I knew the story, the tragedy, the political history – but I never really knew much about Victor Jara’s music. When I started listening to it two years ago, I was just stunned that his music could have such a tender and beautiful heart." Tatsächlich gewinnt man den Eindruck, dass die Beschäftigung mit dem künstlerischen Wirken Victor Jaras nicht an erster Stelle steht. Was Bradfield zuvorderst reizt und herausfordert, ist die Person und der sie umgebende Märtyrermythos, das Nachleben als überlebensgroße Symbolfigur im Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit. Einflüsse andiner Musik und des von Jara maßgeblich geprägten Nueva Canción finden sich auf der Platte zwar auch, aber sie sind eben genau das – Einflüsse, mehr nicht – und stehen neben zahlreichen anderen Referenzen, die Bradfield nach eigener Aussage inspiriert haben sollen, darunter Werke von Pink Floyd und John Cale.

Doch ungeachtet aller Freude am Experiment verlässt Bradfield bei seinem Soloausflug nur sporadisch die musikalische Komfortzone seiner Hauptband. Muss er aber auch nicht. Stilistisch decken die elf Songs eine beachtliche Bandbreite ab und überzeugen auch dort, wo sie kein unbekanntes Terrain betreten. "The boy from the plantation" trumpft mit dem typischen Manics-Bombast auf, "There'll come a war" erzeugt mit Klavier und Drumcomputer eine Atmosphäre der Beklemmung. Vage vertraut klingt auch "The last song", das nach balladeskem Beginn nicht zu Ende kommen mag, sondern lieber noch einen Ausflug in Richtung Kraut und Progrock unternimmt. Was in der Wahl der Formen und Mittel zunächst vielleicht noch willkürlich wirkt, erweist sich doch als überaus gut an die jeweilige Situation und Stimmung angepasst. Da finden sich einerseits Momente des optimistischen Aufbruchs und der zaghaften Euphorie, andererseits solche der Enttäuschung und Trauer. Das Leben eines musizierenden Revolutionärs, gebannt in ein Album. Nicht frei von Überhöhung und Verklärung, aber gerade deshalb mitunter so mitreißend und ergreifend.

Das Wissen um die passenden Effekte und routiertes Songwriting sind eine Sache. Was "Even on exile" ausmacht und zusammenhält, ist das Gespür für eine allumfassende Dramaturgie, die sich nicht zuletzt darin äußert, wie Motive variieren und sich über einzelne Songs hinaus entwickeln. Worte erscheinen demgegenüber manchmal fast schon unbedeutend oder nebensächlich. Und vielleicht hat "Even on exile" seine besten Augenblicke sogar dann, wenn Bradfields Stimme verstummt. "Seeking the room with the three windows" zitiert die aufjaulende Solo-Gitarre vom frühen Überhit "Motorcycle emptiness" und verbindet sie unter anderem mit Elementen von Krautrock und Flamenco. "Under the mimosa tree" schwelgt hingegen in orchestralem Überfluss und würde auch gut als Filmmusik taugen, ebenso das gleichfalls textfreie "La partida" – ein Jara-Cover, das in der überwältigend-hymnischen Interpretation von Bradfield zwar etwas von seiner spröden Schönheit einbüsst, dafür aber an Eindringlichkeit gewinnt. Wie gesagt: Wäre dieses Album ein Film, es wäre ein Blockbuster. Allerdings einer, der von der Hoffnung erzählt. Der die Hoffnung wach hält. Allen historischen Erfahrungen und Niederlagen zum Trotz.

(Markus Huber)

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Highlights

  • The boy from the plantation
  • La partida
  • The last song


Tracklist

  1. erda
  2. The boy from the plantation
  3. There'll come a war
  4. Seeking the room with the three windows
  5. Thirty thousand milk bottles
  6. Under the mimosa tree
  7. From the hands of violeta
  8. Without knowing the end (Joan's song)
  9. La partida
  10. The last song
  11. Santiago sunrise

Gesamtspielzeit: 48:23 min.

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(Neueste fünf Beiträge)
User Beitrag

kingsuede

Postings: 4072

Registriert seit 15.05.2013

2020-12-31 21:57:39 Uhr
Landet in meiner Top 10 2020.

The MACHINA of God

User und Moderator

Postings: 31659

Registriert seit 07.06.2013

2020-12-31 20:18:18 Uhr
Jahresendbetrachtung:
Wirklich ein richtig schönes Album und wie oben schon gesagt für mich das beste seit "Journal" mit Ausnahme von "Futurology". Auch die Instrumentale mag ich sehr, als Song gefällt mir wohl "Milk bottles" und "Mimosa tree" am besten. 7,5/10

The MACHINA of God

User und Moderator

Postings: 31659

Registriert seit 07.06.2013

2020-09-05 18:49:37 Uhr
Abgesehen von "Futurology" ist das das beste Manics-related Album seit "Journal for plague lovers".

The MACHINA of God

User und Moderator

Postings: 31659

Registriert seit 07.06.2013

2020-08-29 17:55:46 Uhr
Dritter Durchgang. Ich mag es echt ziemlich.

Quill Eupner

Postings: 92

Registriert seit 18.06.2013

2020-08-21 13:14:06 Uhr
@MM13: Ich hatte leider noch keine Gelegenheit oder Muße, richtig reinzuhören. Da ich von den Manics fast alles habe, gehe ich aber davon aus, dass das für mich interessant sein könnte.
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